Müller wächst mit Berlin

SPD Auf der Fraktionsklausur in Jena schwört der Regierende Bürgermeister die Sozialdemokraten auf Wachstumskurs ein und spricht von Vollbeschäftigung als Ziel

Mal hemdsärmlig, mal mit Signalfarbe. Michael Müller geht es gerade gut Foto: Jens Gyarmaty/Visum

von Uwe Rada

Ausgerechnet im beschaulichen Jena drückt die Berliner SPD aufs Tempo. „Berlin ist endlich eine internationale Metropole geworden“, sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller auf der Klausurtagung der SPD-Fraktion in Thüringen – und es klingt fast schon wie eine vorweggenommene Regierungserklärung für die Zeit nach den Wahlen am 18. September. „Wofür andere Metropolen lange gebraucht haben, vollzieht sich in Berlin in kürzester Zeit. Das ist eine große Chance.“

Doch Müller will in der wachsenden Stadt auch jene mitnehmen, die mit Sorge auf die neue Entwicklung schauen. „Die Berliner spüren, wie es enger und teurer wird in unserer Stadt.“ Das Rezept des Regierungschefs lautet neben dem Wohnungsbau „aktive Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik“. „Wir müssen die Arbeitslosigkeit von derzeit 10,1 Prozent deutlich senken“, sagt Müller und fordert, man müsse sogar „über das Wort ‚Vollbeschäftigung‘ reden“, sprich die Arbeitslosenquote auf 3 oder 4 Prozent senken. Seine Botschaft: Berlin wächst – und es gibt einen Steuermann, der diese wachsende Stadt durch alle Höhen und Tiefen führt.

Normalerweise ist es bei Klausuren der SPD-Abgeordneten nicht üblich, dass der Regierende Bürgermeister dem Fraktionschef die Show stiehlt. In Jena aber hat sich gezeigt, dass Michael Müller und Raed Saleh ihre Rivalitäten abgelegt haben und mit verteilten Rollen spielen. Saleh profiliert sich dabei mehr und mehr als das soziale Gewissen seiner Partei. So ließ er bereits vor der Klausur wissen, dass er nach den Kitagebühren nun auch die Hortgebühren abschaffen wolle. Die SPD-Senatoren und Abgeordneten folgten ihm dabei, die CDU indes hat bereits Widerstand angekündigt. In einer Resolution, die am Sonntag verabschiedet wurde, ist perspektivisch sogar von einem kostenfreien Schul­essen die Rede. „Ich will nicht, dass manche Kinder den anderen beim Essen zuschauen“, so Saleh zur Begründung.

Den Optimismus in der Flüchtlingspolitik hat sich die SPD am Wochenende von außen bestellt. Ein Verdrängungskampf um Jobs sei nicht zu ­erwarten, sagte dazu der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, der als Gastredner eingeladen war. Man gehe in Berlin von 28.000 arbeitsuchenden Flüchtlingen aus, von denen innerhalb von fünf Jahren bereits die Hälfte in den ­Arbeitsmarkt inte­griert sein dürfte. Der Vorsitzende des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin, Marcel Fratzscher, sagte: „Es können goldene Jahrzehnte werden in Berlin.“

Wäre da bloß nicht dieses schnelle Wachstum. Zusätzlich zu 40.000 neuen Berlinerinnen und Berlinern waren 2015 insgesamt 80.000 Flüchtlinge in die Stadt gekommen. Bereits vor Kurzem hat Berlin seine Bevölkerungsprognose auf 4 Mil­lionen hochkorrigiert. DIW-Chef Fratzscher wollte aber nicht ausschließen, dass bis 2030 eine ganze Million hinzukomme.

„Es können goldene Jahrzehntewerden in Berlin“

Marcel Fratzscher, DIW Berlin

Wachsen und sozial bleiben, so schön könnte die sozialdemokratische Welt werden, wäre da nicht die AfD. Der Politikwissenschaftler Hajo Funke warnte vor einer weiteren Radikalisierung am rechten Rand. „Was wir derzeit erleben, ist eine Entfesselung des Ressentiments“, so der Rechtsextremismusforscher.

Funke riet, die AfD zu bekämpfen, um denen, die sich noch nicht radikalisiert hätten, ein Angebot zu machen. Zur Not seien dazu auch Fernsehduelle nötig, sagte er in Richtung der Sozialdemokraten in Baden-Würt­temberg und Rheinland-Pfalz, die Auftritte mit AfD-Politikern abgelehnt hatten. „Wenn die nur 2 Prozent haben, kann man sie boykottieren, nicht aber bei 12 Prozent“, betonte Funke. Müller selbst hat sich nach eigenen Angaben noch nicht ­entschieden, ob er ein Fernseh­duell auch mit der AfD austragen würde.

Über mögliche Koalitionspartner nach dem 18. September wurde in Jena nur hinter vorgehaltener Hand geredet. Ein Abgeordneter scherzte, eine Zweistimmenmehrheit mit der Linken sei immer noch sicherer als eine Fünfstimmenmehrheit mit den Grünen. Falls es weder für Rot-Grün noch für Rot-Rot reichen würde, wäre ja immer noch ein Dreierbündnis möglich, schrieb der thüringische Bauminister Wolfgang Tiefensee (SPD) während eines Grußworts den Genossen ins Stammbuch. „Am Anfang haben alle gedacht, das geht nicht. Mittlerweile stellen wir fest, dass es sogar gut geht“, berichtete Tiefensee. In Erfurt regiert seit Ende 2014 ein rot-rot-grünes Bündnis unter dem Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow.