: Es geht um die Wurscht
Essen Jörg Reuter verspricht seinen Kunden „Vom Einfachen das Gute“: Produkte mit Geschichte und „Romance“ statt „Science“. Er beweist mit seinem Laden in der Invalidenstraße in Mitte, dass das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP von gestern ist
von Peter Köpf
Jörg Reuter weiß, was Kunden wünschen. Er verkauft – und so heißt auch sein Laden in Berlins Invalidenstraße – vom Einfachen das Gute: „herrlich mild-nussigen“ Käse aus dem Spreewald, „cremig weichen“ Soumaintrain aus dem Burgund, „in Feigenblätter gewickelten und in Holzfässern gereiften“ italienischen Pecorino, außerdem „traumhafte Fleischwurst“ und „im Edelschimmel gereiftes Roastbeef“ aus der Bayerischen Rhön, „schön mürben“ Kochschinken „vom Landwerthof“ an der Ostseeküste, „einzigartige“ Salami vom Auerochsen „aus dem Naturschutzgebiet Unteres Odertal“, 30 Monate gereiften iberischen Schinken aus Andalusien und Ahle Wurscht aus Nordhessen, selbstverständlich aus artgerechter Tierhaltung. Ein Fest der Sinne − und der Attribute.
Rindfleisch aus den USA würde Reuter nicht verkaufen. Künstliche Wachstumshormone, potenziell krebserregend und genverändernd – das lehnen seine Kunden und natürlich auch er ab. Bisher kann derartig erzeugtes Fleisch die EU nicht erreichen, ebenso wenig gentechnisch verändertes Getreide. In den USA dagegen wird ein Produkt erst verboten, wenn Schäden nachgewiesen sind. Was, wenn die amerikanische Linie sich bei den Verhandlungen zur Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) durchsetzen würden? Was, wenn Sigmar Gabriel sein Versprechen nicht halten kann, dass europäische Umwelt-, Sozial- und Verbraucherstandards nicht preisgegeben werden?
Auf der Schiefertafel vor dem Eingang rief Reuter seine Kunden dazu auf, ihn im Herbst zur Anti-TTIP-Demonstration in Berlin zu begleiten. Am umsatzträchtigsten Tag der Woche schloss er dafür seinen Laden mehrere Stunden früher als sonst. Bei dem angestrebten Abkommen gehe es nicht um die Qualität der Lebensmittel, kritisiert er, schon gar nicht um die Reduzierung des CO2-Ausstoßes oder nachhaltiges Wirtschaften. TTIP fördere ausschließlich die Interessen großer, global agierender Unternehmen und laufe dem Trend entgegen, den Wünschen der meisten Menschen, wie sie leben möchten. Insofern, so Reuter in seinem 45 Quadratmeter kleinen Laden, „sind wir antiglobal“.
Der Laden ist der Praxistest für das, was Reuters Firma „Grüneköpfe Strategieberater“ großen Unternehmen wie Rewe und Voelkel empfiehlt, die ihre Marke zeitgemäß entwickeln möchten. Kundenwünsche verändern sich, sagt der studierte Agraringenieur, der auch auf Bauernhöfen gearbeitet hat. Zukunft im Foodbereich habe guter Geschmack, Stichworte: „handwerklich hergestellt mit Liebe und Leidenschaft, mit Respekt und Verantwortung“. Trend sei „das Ursprüngliche und Intuitive im Umgang mit Essen“. Zur zeitgeistgerechten Weltanschauung gehören Begriffe wie „bäuerlich“, „biologisch“, „saisonal“, „regional“, „handwerkliche Kleinproduktion“. Öko ist nicht Pflicht, aber Reuters Kunden wollen wissen, woher die Ware kommt und wie sie verarbeitet wird. Obwohl Fleisch den Tabak als geächtetes Produkt zu beerben scheint, sind sie selten Vegetarier, nie Veganer. Aber sie lehnen Massentierhaltung ab. Der Wunsch nach Lebensmitteln aus der Umgebung bedeutet jedoch nicht, generell auf Leckeres aus anderen Ländern verzichten zu wollen. Zumal die Region nicht immer zufriedenstellt: „Wir hätten gern in unserem Laden viel mehr Regionales“, sagt Reuter. „Aber in ganz Brandenburg haben wir keine Wurst gefunden, die uns schmeckt.“
Ahle Wurscht: Eine grobe luftgetrocknete Rohwurst, hergestellt nach einem alten, zeitweise vernachlässigten Rezept. Das Fleisch wird schlachtwarm per Fleischwolf in grobe Stücke zerteilt, mit Nitritpökelsalz, Pfeffer und Knoblauch gewürzt und in Därme gefüllt. Reifezeit an der Luft: mehrere Monate. Die Slow-Food-Bewegung hat die Nordhessische Ahle Wurscht in ihre „Arche des Geschmacks“ aufgenommen.
Soumaintrain:Weichkäse aus Kuhmilch mit Ursprung im Burgund. Namensgeber: die Gemeinde Soumaintrain im Departement Yonne, wo einige Produzenten die traditionelle Methode der Herstellung wieder aufgenommen haben. Die weiche, orangefarbene Rinde entsteht, weil er während der Reifezeit regelmäßig mit Salzlake und dem Tresterschnaps Marc de Bourgogne eingerieben wird.
Der Laden:Vom Einfachen das Gute, Invalidenstraße 155, 10115 Berlin, Öffnungszeiten: Mo.–Sa. 10 bis 20 Uhr. http://vomeinfachendasgute.com
Trend ist auch, sich mit Nahrungsmitteln auszukennen. „Essen ist die neue Popkultur“, hat Reuter entdeckt. „Kulinarische Expertise ist längst Statussymbol.“ Mit ein paar Adjektiven zum Wein schindet man heutzutage keinen Eindruck mehr. Zum guten Ton gehört, den Gästen sagen zu können, weshalb der Soumaintrain so cremig weich schmeckt („weil er regelmäßig mit Marc de Bourgogne eingerieben wird“), wie die Schweine aufgewachsen sind, die nun als iberischer Schinken auf dem Teller liegen („Sie leben halbwild in einem Naturschutzgebiet und ernähren sich zu einem hohen Anteil von Eicheln“), und was eine Ahle Wurscht von der Salami unterscheidet.
„Gute Produkte haben eine Story“, sagt Reuter. Selbstverständlich kennt er die der Ahlen Wurscht: Der „Handwerksmetzger“ – Reuters Lieferant ist Carsten Neumeier aus Walburg bei Kassel – schlachte das Schwein selbst. Wie früher bei einer Hausschlachtung verarbeite er „nur warmes Schweinefleisch, das er mit selbst gemahlenen Naturgewürzen und ohne Zusatzstoffe sorgfältig vermischt“. Die Schweine lieferten ausgewählte Zuchtbetriebe aus dem Umland, natürlich aufgezogen mit natürlichem Futter und genügend Auslauf. „Die Ahle Wurscht“, sagt Reuter, „kriegt nur ein Metzger hin, der alle Tricks kennt.“
Reuter kennt solch eine Geschichte zu allen Produkten in seinem Laden. Er nennt ihn „Sehnsuchtsraum“. Hier versucht er, die Wünsche der Kunden zu befriedigen. Und die heißen beim Essen heute nicht mehr: möglichst viel für alle und für möglichst wenig Geld. Essen ist heute eine weitaus sinnlichere Angelegenheit. Die Ahle Wurscht sei „Romance“, sagt Reuter, Industriewurst dagegen sei „Science“, das Rationale, „praktisch und effizient“. Das Fleisch einer Industriewurst stamme aus Massentierhaltung, werde im Schlachthaus nur zerlegt, erreiche über eine Kühlkette den industriellen Verarbeiter, und für den Geschmack der Wurst sorgten dann eine Menge Phosphate.
Eine Studie des Lebensmittelkonzerns Nestlé („So is(s)t Deutschland“) stützt Reuters Erkenntnisse. Ein Sechstel der Deutschen zählt danach zur Gruppe der anspruchsvollen „Gesundheitsidealisten“, in der Mehrzahl Frauen in der Stadt, für die gesunde Ernährung eine übergeordnete Rolle spielt und die bereit sind, mehr für qualitativ hochwertige Lebensmittel auszugeben. Auch die „Nestwärmer“ wollen sich und ihre Familien ausgewogen und gesund ernähren. Für Frische und Qualität greifen sie gern etwas tiefer in die Tasche und erkundigen sich beim Einkauf nach der Herkunft der Lebensmittel. Schnell wachse die Gruppe der „älteren Problembewussten“, die aus Gesundheitsgründen frische Ware kauften und in dem Bewusstsein lebten: Nur wer selbst sein Essen zubereitet, weiß auch, was er seinen Lieben auftischt. Anders als die „Gehetzten“, die „Maßlosen“ oder die „Leidenschaftslosen“ interessieren sich die genannten Gruppen auch für die Produktionsprozesse, die Lieferkette und den Energieverbrauch während der Produktion, hat Gerhard Berssenbrügge gelernt, bis Juni 2015 Vorstandsvorsitzender von Nestlé. „Das Wissen über Herkunft und Herstellung wird in Zukunft eine Frage des Sozialprestiges sein, ähnlich wie früher der Brockhaus im Bücherregal. Essen wird zur Frage der Weltanschauung.“
Das Modell „Science“ verliert längst Vertrauen. Eingeführte Lebensmittelproduzenten fürchten um Marktanteile und bringen immer mehr „Bio“ und Fleischloses in die Regale. Bei amerikanischen FastFood-Ketten gibt’s Veggie Burger, Fleisch- und Wurstfabriken wie Wiesenhof und die Rügenwalder Mühle versuchen, ihr Image aufzupeppen mit vegetarischer Fleischwurst und vegetarischem Mühlen-Schnitzel mit Eiern aus Freilandhaltung, laktosefrei und ohne Zusatz von Geschmacksverstärkern, unterstützt vom Vegetarierbund Deutschland.
Aber befriedigt derartiger Etikettenschwindel die Sehnsucht nach „Romance“? Eher bedient er doch die Erfordernisse des Konzepts „Science“, das Rationale und Effiziente, das auch die TTIP-Verhandlungen leitet.
Immerhin einen positiven Aspekt kann Reuter der Entwicklung abgewinnen: „Je schlechter die Waren sind, die aus den USA kommen, desto besser für uns.“ Kleinunternehmen wie das seine würden dann die Nischen bedienen, die sich unvermeidbar ausweiteten. Beispielsweise mit in Feigenblätter gewickeltem und in Holzfässern gereiftem Pecorino aus Milch von glücklichen Kühen, handwerklich hergestellt von einem kleinen Bauern aus Umbrien. Mit Liebe und Leidenschaft.
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