: Kinderlein, kommet alle
Verdrängung Der legendäre Kreuzberger „Gemischtladen für Revolutionsbedarf M99“ ist von Räumung bedroht. Eine Kiezdemo soll den Betreiber HG Lindenau unterstützen
von Helmut Höge
„Ich brauche kein Geld zum Leben. Ich bin glücklich, wenn ich singen und vegane Schwarzwälder Kirschtorte essen kann,“ behauptet der Betreiber des aus Touristenführern international bekannten Anarcho-„Infoladens“ in der Manteuffelstraße 99, Hans-Georg Lindenau.
Ganz anders sein neuer Hausbesitzer André Weickhardt, Erfinder eines „energetischen Quartierkonzepts“ und Geschäftsführer der „Idema Immobilien- und Verwaltungsgesellschaft“: Er will ihn partout raushaben – und den Laden wahrscheinlich schick und teuer machen.
Aber der Überzeugungstäter Lindenau, der den Laden seit 30 Jahren betreibt, will bleiben und hat viele Unterstützer, darunter kompetente Juristen und Nachbarn, die in ihm einen wirksamen Entschleuniger der Gentrifizierung sehen. Dazu kommen viele treue Kunden. Zu letzteren gehöre auch ich. Allerdings interessieren mich dort nicht die Ausrüstungsgegenstände für den Straßenkampf und die revolutionär bedruckten T-Shirts für den Kreuzberger Amüsierpöbel, sondern die dazwischen gestapelten Bücher, die thematisch stets auf den in der politisch korrekten Antifaszene angesagten Linien liegen – angefangen bei den „Klassikern“ aus der Studentenbewegung – von Marx bis Marcuse und zuletzt „Backen ohne Ei“.
Die Flugblätter, die vor dem Laden angeschlagen werden, legen jedoch bereits nahe, dass die Kreuzberger Linke die Sauereien des Zuspätkapitalismus eher praktisch im zugewiesenen Lebensraum als theoretisch am fliegenden Schreibtisch bekämpft. Drei Brandstiftungen – mutmaßlich von Rechten – hat der Laden von HG bisher überstanden, dazu einen Matrazenbrand im Inneren Anfang 2015: Eine Kundin war beim Lesen und Zigarettenrauchen eingeschlafen. Die Folgen waren „fatal“, schrieb die taz: Zwar konnte das Feuer schnell gelöscht werden, aber der Staatsschutz, die Bullen, die seinen Laden schon über 50 Mal überfallen haben, ließen sich auch diesmal nicht die Gelegenheit entgehen, um bei diesem typischen Missgeschick lesender Raucher gründlich zu „ermitteln“, was hieß, dass sie den Laden absperrten.
Gegenüber der taz klagte HG: „Wenn die Sperrung nicht aufgehoben wird, bin ich bald bankrott, ich verliere jeden Tag 500 Euro an Einnahmen.“ Da sprach der Einzelhändler aus ihm und nicht der „Ich brauche kein Geld zum Leben“-Autonome. Aber wahr ist, dass das LKA auf die Weise dem neuen Hausbesitzer zuarbeitete, der Lindenau gekündigt hatte. Bis Silvester 2015 sollte er den Laden und die Wohnung dahinter räumen.
Gegen dieses Urteil war sein Anwalt, ein Mietrechtsspezialist aus der Nachbarschaft, in Berufung gegangen. Unter anderem mit dem Hinweis, dass der Ladenbetreiber Rollstuhlfahrer sei, mit dem man so nicht umgehen dürfe. Lindenau hatte sich 1988 neben weiteren Aktivitäten auch an der Besetzung des „Lenné-Dreiecks“ am Potsdamer Platz beteiligt. Als die Polizei das riesige Grundstück stürmte, flüchteten die Besetzer über die Mauer auf Lastwagen der NVA, die ihnen dann auch noch ein Essen in ihrer Kantine spendierte. Danach sickerten sie mit gültigen U-Bahn-Fahrscheinen wieder in den Westen ein.
Seit dem Tag wurde er „massiv durch bestimmte Staatsschützer gemobbt, hatte immer wieder psychosomatische Angstzustände und Suizidanfälle,“ erzählte er der taz. Im September 1989 war er während eines solchen „Anfalls“ vom Turm der Kirche am Lausitzer Platz gesprungen.
Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Und seit dem Matrazenbrand Nichtraucher, Veganer sowieso. Zwar ist vor großen Demos immer etwas mehr Betrieb in Lindenaus Laden, wie der Tagesspiegel beobachtete, er selbst nimmt jedoch nur noch selten an Demos teil und geht auch nicht mehr auf Veranstaltungen von Autonomen, „weil da so viel geraucht wird“, aber er „bleibt Teil der Szene“, wie er meint. Das zeigte sich bereits nach dem Matrazenbrand, da rief H.G. Lindenau wegen der Versiegelung seiner Räume durch das LKA zu einem „Protestschlafen“ vor seinem „Infoladen“ auf – und sofort meldeten sich „UnterstützerInnen“ in ausreichender Zahl.
Inzwischen sind sie eher mehr geworden, vor allem, wenn es um Räumung und Gentrifizierung geht. Und zumal bekannt ist, dass Lindenau im Oktober eine Teilklage gegen den Hausbesitzer verlor. Eine Berufungsverhandlung steht noch aus, dessen ungeachtet lautet die Parole nun: „Zwangsräumung verhindern!“ Dazu heißt es auf der Internetseite des Bündnisses „Zwangsräumung verhindern – Wir kommen!“: „2016 geht’s weiter, und zwar am 9. Januar um 14 Uhr mit einer Kiezdemo am Heinrichplatz für HG und seinen Laden. Helft mit, Flyer und Plakate zu verbreiten.“ Plakate unter: berlin.zwangsraeumungverhindern.org
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen