Die Familienforscherin

DEBÜTANTIN Für ihren ersten Roman „Blutorangen“ bekommt Verena Boos den Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses

Von Haus aus Historikerin, aber noch lieber Literatin: Verena Boos   Foto: Winfried Höh

von Frank Keil

Zwei Herzen schlagen in der Brust der Jury des Mara-Cassens-Preises – des mit 15.000 Euro dotierten, wichtigsten deutschen Literaturpreises für ein Romandebüt. Eines schlägt für Geschichte, das andere für Familiengeschichten. Vor zwei Jahren etwa vergab das Hamburger Literaturhaus den Preis an Sarah Strecker – für den Roman „Fünf Kopeken“, der entlang dreier Frauenfiguren den Weg der deutschen Gesellschaft erzählt, von den Bombennächten des Krieges bis zur Wiedervereinigung. Im vergangenen Jahr wurde Regina Scheer für „Machandel“ geehrt, der die Geschichte der DDR auffächert anhand eines fiktiven mecklenburgischen Dorfes, in dem sich die Wege verschiedener Familien immer wieder kreuzen.

Diesmal geht es nun entlang der Lebensspuren zweier Familien nach Spanien. Weit wird der Bogen vom spanischen Bürgerkrieg des Sommers 1936 bis zum Frühjahr 1939 und schließlich in unsere Gegenwart gespannt, dabei die deutsch-spanische Geschichte einmal ganz anders betrachtet. Und wieder ist es eine Entscheidung, der man erneut beglückt zustimmen kann, denn „Blutorangen“ von Verena Boos verknüpft gekonnt die politische Geschichte Spaniens seit der Franco-Zeit mit den grundsätzlich wirksamen Dynamiken, die in Familien offenbar ungebrochen herrschen: das Schweigen und das Verdrängen; das Aufdecken und das Konfrontieren; schließlich das Weitererzählen und Aufschreiben.

Soziologisches Interesse

Im Roman verschlägt es die junge Maite im Sommer 1990 für ein Auslandssemester von Valencia nach München. Dort wird sie nicht nur die Seltsamkeiten bayrischer Biergärten und die deutsche Wiedervereinigung erleben, sie wird auch einen ganz persönlichen Aufbruch erfahren: denn dem Einfluss ihrer rigiden Familie und besonders dem ihres despotischen Vaters entkommen, verliebt sie sich Hals über Kopf und mit ansteckender Verve in den Sohn einer deutsch-spanischen Familie, deren Gründungs- und Großvater einst auf ganz andere Weise nach Deutschland kam. Und mit einem Mal wird Maite klar, dass sie bis dato weder über die Geschichte ihres Landes noch über die Geschichte ihrer Herkunftsfamilie allzu viel weiß. Sie entscheidet sich, beides grundlegend zu ändern – und dazu muss sie fragen, nachbohren, nicht locker lassen.

,,Ich habe über Nationalismus und nationale Identität in Katalonien promoviert und das kann man nicht, ohne sich wenigstens am Rande mit dem Franquismus auseinanderzusetzen“, benennt die Autorin eine der Quellen, die ihren Debütroman am Ende zum Sprudeln brachten. Eine andere entspringt ihrem grundsätzlichen historischen und soziologischen Interesse: „Ich bin in einem Buch auf Fußnoten gestoßen, dass nach der Niederlage der Republik an manchen Grenzübergängen in den Pyrenäen sich innerhalb weniger Tage eine halbe Million Menschen sammelten“, erzählt Boos. „Und dass später die Nazis Spanier, die nach Südfrankreich geflohen waren, nach Mauthausen deportierten, noch bevor sie mit dem systematischen Judendeportationen angefangen haben.“ Aufgerüttelt und fasziniert sei sie von den Fakten und dahinterstehenden Ereignissen gewesen.

Deutsch-spanische Zeitreise

Boos’Roman ist eine Zeitreise in die deutsch-spanische Geschichte, die auch über ein bisher wenig bekanntes Kapitel dieser Geschichte berichtet, die so genannte „Blaue Division“: Als Dank für die militärische Unterstützung durch die Luftwaffe Nazideutschlands während des Bürgerkrieges, schickte Franco den Deutschen fast 18.000 Soldaten, die an die Ostfront weitergereicht wurden.

Das ist gewissermaßen der politische Grund und Boden, in dem Maite graben wird. Zugleich wird sie selbst zum Austragungsort widersprüchlichster Empfindungen: „Von der Dramaturgie eines Romans her war für mich die Kernfrage, was eigentlich passiert, wenn ein pubertärer Rebellionskonflikt einen politischen Hintergrund erhält“, sagt Boos. „Was passiert, wenn sich eine Tochter gegen ihren Vater auflehnt, weil sie entdeckt, dass er Schuld auf sich geladen hat. Wie entwickeln sich dann die Familienbeziehungen?“

Und so werden wir Zeugen, wie Maite den mühsamen Weg der Familienerforschung gehen muss: „In jeder Familie weiß jeder irgendetwas, das er nicht weitererzählt; es gibt in Familien wandernde Tabus“, sagt Boos. Wolle man weiterkommen, müsse man sie eines Tages festhalten und auflösen.

Wandel zur Literatin

Zugleich erzählt das Buch auch vom Wandel der Historikerin zur Literatin: „Ich habe schon während meiner Doktorarbeit gemerkt, das ich in der Wissenschaft nicht bleiben will“, sagt Boos. Und so verfolgt sie nach ihrer Dissertation keine klassische wissenschaftliche Karriere, sondern arbeitet zunächst für Stiftungen und NGOs. Bis sie im Jahr 2010, durch glückliche private Umstände gestärkt, sich ganz dem Schreiben widmen kann.

Zunächst kein ganz einfacher Schritt: „Es war anfangs nicht leicht, von diesem jahrelang antrainierten wissenschaftlichen Jargon in eine literarische Sprache zu finden, aber mit der Zeit und je länger ich mit meinen Helden zusammenlebte, ging es immer besser“, sagt sie. Aber wenn in einem Halbsatz vorkomme, dass sich Hitler und Franco an einem Grenzübergang getroffen haben – das müsse natürlich schon auf Fakten beruhen. Und Boos merkt selbstkritisch an: „An manchen Stellen ist es noch ein wenig Geschichtsunterricht, aber ich hoffe, es hält sich im Rahmen.“

Es hält sich! Denn es überwiegen bei weitem grandios erzählte Familien- und überhaupt Lebensszenen, wie es dieses behutsame Switchen zwischen Geschichte und den zu erzählenden Geschichten ist, das „Blutorangen“ zu einem echten Lesevergnügen macht. Zugleich bleibt stets präsent, dass der Stoff, auf den Verena Boos zurückgreift, kein leichtherziger ist: „Die Franco-Diktatur währte fast 40 Jahre, und in dieser Zeit haben Franco und sein Regime sehr erfolgreich die Bevölkerung terrorisiert“, erzählt Boos. Ein Terror, der auf seine Weise bis hinein in die Familien reicht.

Die Preisverleihung findet am Donnerstag, 7. 1., 19.30 Uhr, im Literaturhaus statt – und ist längst ausverkauft

Verena Boos: „Blutorangen“, Aufbau Verlag 2015, 412 S., 19,95 Euro