: „Kaczyński misstraut allen“
Polen Sachbuchpreisträger Philipp Ther über den Erfolg der Warschauer Wirtschaftspolitik nach dem Kommunismus und den Nationalismus der PiS
ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Für den Band „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ (26,95 Euro) erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse für das beste Sachbuch.
Interview Martin Reeh
taz: Herr Ther, warum waren die Polen noch nie im Weltraum?
Philipp Ther: Den kenne ich nicht.
Der Große Wagen ist noch da. Den hat Harald Schmidt in den neunziger Jahren erzählt. Die Konjunktur der Polen-Witze ist vorbei. Warum?
Die Polen-Witze waren damals schon überaltert und etwas einfallslos. Die Wahrheit ist komplizierter. Erstens war Polen überwiegend ein Transitland für gestohlene Autos. Und zweitens wurden in Deutschland besonders gerne geleaste Luxuskarossen gestohlen. Ein ganz einfaches Geschäftsmodell: Das Auto ließ man stehlen, quasi auf Bestellung, wenn man die Leasingrate nicht mehr zahlen konnte. In Polen wurde das Auto versteckt, bis die Versicherung den Versicherten ausbezahlt hatte. Das Auto ist dann Eigentum der Versicherung, aber in Wahrheit abgeschrieben. Dann taucht das Auto wieder auf und wird verbilligt verkauft. Alle haben etwas davon, nur die Versicherten nicht. Sie bezahlen den Schaden über erhöhte Prämien.
Heute gibt es das Bild der faulen Griechen. Brauchen wir Deutsche ausländische Gruppen, denen wir negative Stereotype zuschreiben?
Deutschland funktioniert anders als etwa die USA oder Frankreich. Dort ist es mit dem Nationalismus so, dass man sich über andere erhebt, indem man sich selbst bestimmte positive Eigenschaften zuschreibt. Es ist ein Teil des deutschen Nationalcodes, die anderen schlechtzumachen, um besser dazustehen. Die anderen sind dann weniger umweltbewusst, tolerant, aufgeklärt, gleichberechtigt als wir.
Was ist der polnische Nationalcode? Kann man mit Blick auf die neue Kaczyński-Regierung sagen: starker Nationalismus, Misstrauen gegen alles Fremde?
Es handelt sich um einen xenophoben Nationalismus, der auf den Traumata des Zweiten Weltkriegs und noch älteren Mustern beruht. Jarosław Kaczyński misstraut allen: den Russen, der EU und vor allem Deutschland. Außerdem werden traditionelle Mythen bemüht: Polen als Bollwerk des Abendlands und der katholischen Kirche und als eine Nation der Opfer. Jetzt ist ein neues Element ins Spiel gekommen: die Abwehr der Flüchtlinge und ein dezidierter Antiislamismus.
Woher kommt das? Polen gilt doch als osteuropäisches Erfolgsmodell.
Ein erheblicher Teil der polnischen Gesellschaft hat nicht oder nur bedingt vom Aufschwung der vergangenen 23 Jahre profitiert. Und es gibt ähnlich wie in Deutschland ein Problem mit der Generationengerechtigkeit. Die jungen Menschen sind zwar mit einem größeren Wohlstand aufgewachsen, haben auf dem Arbeitsmarkt aber schlechtere Perspektiven als die Generation vor ihnen. Viele der Frustrierten haben Kaczyńskis PiS gewählt.
Begonnen hat alles 1989/90 mit dem neoliberalen Balcerowicz-Plan, mit dem die Planwirtschaft auf Marktwirtschaft umgestellt wurde.
Auf internationaler Ebene und bei den polnischen Liberalen dominiert die simple These: Erst kamen die radikalen Reformen und dann der ökonomische Erfolg. Die Wahrheit ist komplizierter. In Polen – ebenso wie in Ostdeutschland – gab es zunächst mit dem Balcerowicz-Plan eine sehr dogmatisch angewandte Schocktherapie mit den Elementen Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung. Manches davon war angesichts der fatalen ökonomischen Lage Polens im Jahr 1989 sinnvoll. Es hat aber dann nicht so funktioniert wie gedacht. Balcerowicz und seine westlichen Berater erwarteten: Die Wirtschaft bricht um fünf Prozent ein, die Arbeitslosigkeit steigt nur leicht.
Und dann kam ein Desaster?
Minus 18 Prozent Wirtschaftsleistung innerhalb von zwei Jahren, die Arbeitslosenzahl stieg über 2 Millionen. Und das in einem 40-Millionen-Einwohner-Land. Bleibt die Frage: Wie kam es dann zum späteren Aufschwung? Kam der wegen oder trotz der Reformen? Da gebe ich eine gemischte Antwort. Das alte System war am Ende, etwas Neues begann. Alle gesellschaftlichen Kräfte mussten damit umgehen. Insofern kann ein radikaler Schnitt helfen. Das hat in Polen Kräfte befreit. Man könnte daraus in Italien oder in Griechenland wahrscheinlich lernen, nur lässt sich die Geschichte nicht wiederholen und auch kein ökonomisches Standardrezept.
Die Polen waren nach dem Scheitern der Schocktherapie eher pragmatisch.
Die Treuhandprivatisierung in der Ex-DDR war für sie ein Negativbeispiel. Sie bevorzugten oft Mischmodelle: Das Unternehmen blieb zumindest in versteckter staatlicher Trägerschaft, die Privatisierung fand manchmal nur auf dem Papier statt, aber die Unternehmen wurden verpflichtet, Gewinne zu erwirtschaften. Viele der Firmen waren sehr erfolgreich.
Zum Beispiel?
Etwa die Werften. Wobei Grundbestandteile der Reformen nie zurückgenommen wurden, auch von den Postkommunisten nicht. Es wurde kein neuer staatlicher Sektor aufgebaut, die Wirtschaft blieb auf marktwirtschaftlichen Kurs. Der relative Erfolg Polens heißt: erstens eine gewisse Kontinuität in den Grundzielen, zweitens Pragmatismus, drittens nicht die Fehler der Nachbarn wiederholen.
Viele Polen und auch Tschechen haben heute einen Zweit- oder einen Drittjob. Kann man von einem erfolgreichen Modell reden, wenn die Leute 60 Stunden in der Woche arbeiten?
Das ist kein schöner Alltag. Aber: Für eine erfolgreiche Transformation kommt es auf die Steuerung von oben an, mindestens ebenso wichtig war die Transformation von unten. Was Polen vorangebracht hat, war der massenhafte Aufbruch in den Kapitalismus, die Bereitschaft, selbst ein Unternehmen zu gründen. Diese Nischen werden heute immer kleiner aufgrund der Konkurrenz großer Konzerne. Aber Millionen von Polen haben damals die Chancen genutzt, in Ostdeutschland war das viel weniger der Fall.
Wie geht es weiter mit dem polnischen Wirtschaftswunder? Die Welt sah es vor den Wahlen eher kritisch: Polen sei zu sehr die Werkbank der Deutschen und hätte noch nicht genügend privatisiert.
Polen ist in der Tat ebenso wie andere Nachbarstaaten sehr stark abhängig davon, wie es in Deutschland läuft. Dazu kommt: Das bisherige Wirtschaftswachstum beruht – abgesehen von günstigen Löhnen – auch auf Aufholeffekten, etwa im Konsum und im Wohnungsbau. Und das kann nicht ewig so weitergehen. Die postkommunistischen Länder werden auch teurer, die sogenannte Middle-Income-Trap schlägt zu: halb entwickelte Länder, die zu teuer werden, sodass die Investoren nicht mehr kommen. Gerade ein Land wie Polen müsste mehr in Forschung und Entwicklung investieren, um als Standort attraktiv zu bleiben. Polen hat aber bei den Pisa-Tests sehr gut abgeschnitten, das staatliche Bildungssystem ist wieder besser geworden. Damit schafft man Humankapital. Und nach wie vor gibt es den Nimbus der Selbstständigkeit.
Und was wird die neue Regierung wirtschaftspolitisch machen?
Eine seltsame Mischung aus sozialen Wohltaten, die eigentlich unbezahlbar sind, zum Beispiel das Absenken des Rentenalters bei einer rapide alternden Bevölkerung, und Wirtschaftsnationalismus. Man soll nicht immer auf die Börsen fixiert sein, aber an der Warschauer Börse läuft es 2015 schlecht – das drückt die Erwartungen für die Zukunft aus.
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