piwik no script img

Zum Wohl der Kinder

SEXUELLE GEWALT Flüchtlingsunterkünfte dürfen nicht zu rechtsfreien Räumen werden, in denen Flüchtlingskinder erneut Opfer werden

Foto: dpa
Johannes-Wilhelm Rörig

ist der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Ihm wurde das Amt zum 1. Dezember 2011 übertragen. Zu seinen Aufgaben gehört die Unterstützung der Umsetzung der Empfehlungen des runden Tischs „Sexueller Kindesmissbrauch“.

Der Fall des kleinen Mohamed, der im Oktober von der Berliner Aufnahmestelle für Flüchtlinge, dem Lageso, entführt, missbraucht und getötet wurde, führte uns auf erschütternde Weise vor Augen, dass Flüchtlingskinder in Deutschland nicht ausreichend geschützt sind. Es fehlt an klaren Regeln, Strukturen und Kontrollen, die Kinder bei der Erstaufnahme oder in Notunterkünften vor sexuellen Übergriffen schützen.

Es gibt keine Zahlen darüber, wie viele geflüchtete Frauen, Mädchen und Jungen bereits Opfer sexueller Gewalt in Flüchtlingseinrichtungen geworden sind. Beratungsstellen und Nichtregierungsorganisationen gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus. Das Misstrauen der Flüchtlinge gegen staatliche Stellen ist groß. Viele sexuelle Übergriffe werden aus Scham nicht gemeldet und auch aus Angst, eine Anzeige könne sich negativ auf den Asylantrag auswirken. Oft fehlt es außerdem an Informationsangeboten und Ansprechpersonen vor Ort.

Mindeststandards durchsetzen

Viele geflüchtete Eltern vertrauen darauf, dass ihre Kinder in Deutschland in Sicherheit sind. Fehlt es an Mindeststandards zum Schutz vor sexueller Gewalt, sind aber gerade geflüchtete Mädchen und Jungen besonders gefährdet, Opfer sexueller Übergriffe zu werden. Einer Münchener Studie zufolge ist jedes dritte Flüchtlingskind bereits durch die Erlebnisse im Herkunftsland und auf der Flucht psychisch belastet. Jedes fünfte Flüchtlingskind leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Die Erlebnisse im Herkunftsland und auf der Flucht sowie die zum Teil chaotischen Zustände, in denen sich Flüchtlingskinder bei uns in Deutschland zurechtfinden müssen, spielen den Tätern in die Hände. Sie suchen die Nähe zu Flüchtlingskindern und wollen deren Schutzbedürftigkeit für sexuelle Übergriffe ausnutzen – darunter sind vermeintlich Helfende ebenso wie Wachpersonal oder Bewohner der Unterkünfte.

Massenunterkünfte mit ihrer eigenen gefährlichen Dynamik sind keine sicheren Lebensorte für Kinder. Um Stabilität und Vertrauen zu gewinnen, brauchen Flüchtlingskinder schnell ein geschütztes Wohnumfeld mit festen Bezugspersonen und einem regelmäßigen Tagesablauf, zu dem auch der Besuch einer Kita oder Schule gehört. Deshalb ist es gut, dass jetzt ein Integrationsplan vorgestellt wurde, der unter anderem 80.000 zusätzliche Kita-Plätze, einen Ausbau der Ganztagsschulen und mehr Stellen für Erzieherinnen und Erzieher vorsieht.

Bereits im Sommer habe ich eine Checkliste mit Mindeststandards zum Schutz der Flüchtlingskinder vor sexueller Gewalt in Flüchtlingsunterkünften veröffentlicht. Darin fordere ich unter anderem eine separate Unterbringung von Müttern, Vätern und ihren Kindern, die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses für Haupt- und Ehrenamtliche oder wenigstens Kontrollen darüber, wer ein- und ausgeht.

Betreiber sensibilisieren

Es braucht darüber hinaus betreute Spiel- und Freizeitangebote für Kinder, nach Geschlechtern getrennte Sanitärbereiche und Informationsangebote in allen relevanten Sprachen. Ich habe die Einführung von Mindeststandards schon früh an Flüchtlingskoordinator Altmaier und die Regierungschefs der Bundesländer herangetragen. Die bisherigen Länderreaktionen sind leider weitgehend verhalten. Das Land Nordrhein-Westfalen will aber jetzt eine Gewaltschutzstrategie für Flüchtlingsunterkünfte erarbeiten. Betreiber von Flüchtlingsunterkünften müssen endlich für die Gefahr des sexuellen Missbrauchs sensibilisiert und verpflichtet werden, Schutzmaßnahmen einzuführen. Hierbei können erfahrene Beratungsstellen vor Ort wertvolle Hilfe leisten.

Darüber hinaus fordere ich die Große Koalition auf, dass mit dem jetzt anstehenden zweiten Asylpaket endlich eine gesetzliche Grundlage für die Gewährleistung des Kindeswohls in Flüchtlingsunterkünften geschaffen wird. Die Bundesländer sollten gesetzlich verpflichtet werden, Maßnahmen zu ergreifen, die sexuelle Übergriffe und Belästigungen in Flüchtlingseinrichtungen verhindern. Eine Betriebserlaubnis für Flüchtlingsunterkünfte muss eingeführt und die EU-Aufnahme-Richtlinie zu Unterbringung und Versorgung besonders vulnerabler Personengruppen endlich vollständig umgesetzt werden.

Auch die Situation für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist aktuell alles andere als befriedigend. Behörden sind überlastet, viele Minderjährige werden in Notunterkünften oder Hotels statt in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht. Wir haben auch Berichte von Ehrenamtlichen gehört, dass unter 14-Jährige nachts alleine vor dem Lageso standen. Den Vorstoß der bayerischen Wirtschaftsministerin Aigner, Schutzstandards, die für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Kinder- und Jugendhilfe gelten, abzusenken, lehne ich entschieden ab.

Massenunterkünfte sind keine sicheren Lebensorte für Kinder

Kinderrechte nicht verhandelbar

In diesen Tagen gilt mehr denn je: Kinderrechte sind nicht verhandelbar und müssen für jedes Kind in gleicher Weise gelten. Flüchtlingskinder dürfen nicht wie Kinder zweiter Klasse behandelt werden. Das in der UN-Kinderrechtskonvention verankerte Recht aller Kinder auf Schutz vor jeder Form von Gewalt muss gelebter Alltag werden. Politik und Verwaltung müssen jetzt handeln und dürfen die Versorgung und den Schutz der Flüchtlinge nicht länger den Ehrenamtlichen überlassen, die längst am Rande der Erschöpfung arbeiten.

Die aktuelle Versorgungssituation in Deutschland macht deutlich: Wir haben nicht nur eine Flüchtlingskrise. Wir haben eine echte Verwaltungskrise. Das muss sich jetzt schnell ändern. Orte der Erstregistrierung und Notunterkünfte dürfen nicht zu rechtsfreien Räumen werden, in denen Flüchtlingskinder erneut Opfer werden. Vor ein paar Tagen wurde uns von drei weiteren versuchten Kindesentführungen allein in einer Notunterkunft erzählt. Wir sind für den Schutz jedes einzelnen Flüchtlingskinds verantwortlich. Wenn Integration gelingen soll, müssen wir den geflüchteten Mädchen und Jungen ein angst- und gewaltfreies Aufwachsen in Deutschland ermöglichen.

Johannes-Wilhelm Rörig

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen