: iPhysikunterricht
Schule digital Lehrer aus ganz Europa wollen naturwissen-schaftliche Fächer mit dem Einsatz von Smartphones attraktiver machen. Förderer SAP erhofft sich dadurch Nachwuchs für sein Unternehmen
von Ronny Müller
SchülerInnen und ihr Smartphone – in der Schule ist das eine diabolische Konstellation. Zumindest für die meisten Lehrer. Sie sehen in den Lieblingsspielzeugen ihrer SchülerInnen nichts als potenzielle Ruhestörer und Ablenkungsfallen. Für Jean-Luc Richter hingegen sind die Minicomputer die Wunderwaffe in seinem Unterricht. Der 47-Jährige unterrichtet Physik und Chemie am Collège Jean-Jacques Waltz in Marckolsheim im Elsass. Seit etwa drei Jahren lässt er seine SchülerInnen zwischen 14 und 15 Jahren Geschwindigkeiten oder Geräuschpegel mit dem Smartphone messen. „Sie haben das gern und sind stolz, ihr eigenes Gerät zu benutzen“, sagt er.
Richter gehört „Science on Stage“ an, einem gemeinnützigen europaweiten Bildungsnetzwerk, bei dem Lehrer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) Ideen austauschen und neue Unterrichtsmethoden erarbeiten wollen. Vor zweieinhalb Jahren haben dabei 20 LehrerInnen aus 14 Ländern für das Projekt „iStage“ eine Broschüre für den naturwissenschaftlichen Unterricht mit Smartphones entwickelt. „Viele Lehrer möchten Smartphones einsetzen, aber es gibt noch wenige Materialien“, begründet Stefanie Schlunk, Geschäftsführerin von Science on Stage Deutschland, die Idee. Im Dezember 2014 ist das Buch in Englisch und Deutsch erschienen. Nach eigenen Angaben hat das Netzwerk damit – inklusive der digitalen Version – rund 15.000 Lehrerinnen und Lehrer erreicht.
Der zweite Band der iStage-Reihe widmet sich auf 74 Seiten explizit dem naturwissenschaftlichen Unterricht mit Smartphones und richtet sich an LehrerInnen von SchülerInnen zwischen 12 und 19 Jahren. Die Broschüre ist in die Kategorien Augen, Ohren und Hände unterteilt, die farblich voneinander abgehoben sind. Jedes Kapitel umfasst drei bis vier Unterrichtsanleitungen, die sich interdisziplinär in verschiedenen Fächern einsetzen lassen. Der Aufbau ist dabei immer gleich: Nach einer kurzen Zusammenfassung der benötigten Apps und der Alterszielgruppe werden das Konzept und der Bezug zum Lehrplan erläutert. Es folgen die konkreten Aufgaben an die SchülerInnen, Möglichkeiten zur Kooperation mit anderen Klassen und ein Fazit mit weiteren Tipps für LehrerInnen.
Bei allen Übungen nimmt das Smartphone als Aufnahme- und Messgerät die zentrale Rolle ein. So sollen die SchülerInnen in einem Unterkapitel zum Klangspektrum von Musikinstrumenten Töne aufnehmen und anschließend die Tonwellen der verschiedenen Instrumente miteinander vergleichen. In einem anderen Experiment messen sie mithilfe der Kamera und einer Farberkennungsapp den Kupfergehalt einer Flüssigkeit.
„Die Aufgaben sind so gestaltet, dass sie auch bei unterschiedlichen Lehrplänen der einzelnen Länder überall einsetzbar sind“, sagt Stefanie Schlunk. „Jeder Lehrer findet drei bis vier Einheiten, die er benutzen kann“, glaubt auch Jean-Luc Richter. Die Vorbereitung dauere nicht länger als bei Einheiten ohne Smartphone. Die SchülerInnen müssten vor dem Unterricht lediglich eine kostenlose App herunterladen. In der Stunde teile er seine Klasse dann in Zweier- oder Dreiergruppen mit jeweils einem Smartphone ein, sodass nicht jeder ein eigenes Gerät benötige. Angst, dass seine Klasse seine Experimentierfreude ausnutzen und während seines Unterrichts Spiele spielen oder Nachrichten schreiben könnte, hat er nicht. „Ich vertraue meinen Schülern.“ Das Problem sei eher, dass sie ihr Telefon vor Aufregung fallen lassen könnten, scherzt der Lehrer am Telefon.
Felix Kamella, Lobbycontrol
Er ist nicht der Einzige, der sich von den neuen Methoden einen Mehrwert verspricht. Auf der Rückseite der Broschüre prangt das Logo des badischen Unternehmens SAP. Der nach Umsatz größte Softwarehersteller Europas hat das Projekt mit mehreren tausend Euro erst ermöglicht. SAP engagiert sich in verschiedenen Bildungsprojekten. Sie alle sollen, einer Unternehmenssprecherin zufolge, „Kinder und Jugendliche dazu anregen, sich mit Wissenschaft und Technik zu beschäftigen und unternehmerisches Denken zu entwickeln“.
Science-on-Stage-Geschäftsführerin Schlunk betont, dass das Unternehmen den AutorInnen inhaltlich freie Hand gelassen habe. Felix Kamella von den Transparenzwächtern Lobbycontrol sieht ein solches Engagement dennoch kritisch: „Natürlich kann das einen Mehrwert haben. Dennoch beobachten wir, dass Themen wie die MINT-Bereiche, hinter denen finanzstarke Unternehmen stehen, es leichter haben als andere und so bewusst eine bildungspolitische Diskussion umgangen wird.“ Falls es ein Interesse an mehr Smartphones im Unterricht gebe, so solle der Staat die Mittel dafür bereitstellen, sagt Kamella.
Jean-Luc Richter wird in seinem Unterricht weiter auf das Smartphone setzen. Zwar müssen manche Messungen auch auf herkömmlichem Wege gelehrt werden, die Möglichkeiten seien aber noch lange nicht ausgeschöpft. „Mittlerweile können die Geräte schon Luftdruck messen“, freut sich der Lehrer auf weitere Experimente. „Ich bin noch lange nicht am Ende.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen