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Demokratie geht anders

DefizitDie Randstaaten der EU werden nur zur Abwehr von Flüchtlingen gebraucht. Auf nationaler Ebene werden Nichtwähler ausgeschlossen

Rudolf Walther

ist freier Publizist und lebt in Frankfurt am Main. Im Oktober Verlag Münster ist bereits der vierte Band mit seinen Essays, Kommentaren und Glossen erschienen: „Aufgreifen, begreifen, angreifen“.

Europa, also die Europäische Union, gleicht mehr einem Hühnerhaufen als einem rechtsstaatlich-demokratischen Bündnis von Staaten mit der Zielsetzung, ein auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität gegründeter Staatenverbund zu werden. Der Lissabonner Vertrag verpflichtet die EU-Mitglieder auf „loyale Zusammenarbeit“.

Doch das Vorgehen des nationalistischen Autokraten Viktor Orbán genügte, um die formal rechtmäßig zustande gekommenen, tatsächlich aber den südlichen EU-Mitgliedern aufgeherrschten Abkommen von Schengen I–II und Dublin I–III als das zu entlarven, was sie sind: Knebelverträge gegen Subventionen („Strukturhilfen“, „Regionalfonds“), um dem Norden die Flüchtlinge vom Hals zu halten und dem Süden wirtschaftlich auf die Beine zu helfen.

Verträge? Auslegungssache.

Seit Orbáns Alleingang geht jedes EU-Mitglied mit vertraglichen Verpflichtungen ziemlich freihändig um. Die einen sind schlitzohrig wie Italien und Griechenland, die sehr lange und allein sehr viele Flüchtlinge ­aufnahmen, aber jetzt auch viele durchwinken. Andere reagieren brutal, indem sie Zäune bauen wie Ungarn, Slowenien, Kroatien. Die Dritten, wie die BRD und Schweden, nehmen angesichts des Flüchtlingselends ihre humanitären Verpflichtungen ernster als die buchstabentreue Durchsetzung eines Grenzregimes, das die asymmetrische Verteilung von Lebenschancen an der Südgrenze der EU festschreibt und die Überlebenschancen von Flüchtlingen von außerhalb der EU verringert.

Angela Merkel ist ein Opfer der List der humanitären Vernunft: Was sie einst gegenüber Griechenland im Namen „alternativloser“ wirtschaftlicher Logik als Diktatur der Troika im Interesse der Finanzmärkte und Banken durchpeitschte, funktioniert gegen hilflose Flüchtlinge nicht. Die humanitäre Vernunft ist stärker als „Staatsräson“ und Marktlogik zusammen.

Das ohne ausreichende demokratische Legitimation als EU-Recht durchgesetzte Halbrecht zum Schutz der Festung Europa erweist sich als ohnmächtig und zutiefst inhuman gegenüber dem realen Elend von Kindern, Frauen und Männern, die ihr Leben selbst in die Hand nahmen, um Armut, Verelendung, Kriegen und Bürgerkriegen zu entkommen.

Es ist der Bundeskanzlerin gar nicht hoch genug anzurechnen, dass sie sich dem Gebot humanitärer Vernunft bisher gebeugt hat und die sogenannte „Realpolitik“ den Konservativen, Rechtspopulisten und den chauvinistischen Medien überließ. Das EU-Getriebe ächzt unter den Flüchtlingen und dem Druck, dass ein Teil der EU-Hausordnung wie ein Kartenhaus zusammengefallenen ist, genauer: jenes Teils, der den Wohlstand absichern sollte.

Rückgang der Wahlbeteiligung

Um Wohlstandssicherung geht es auch in der Bundesrepublik. Der Osnabrücker Politikwissenschaftler Armin Schäfer hat in der FAZ (9. 11. 2015) dargelegt, was der seit Jahren anhaltende Trend des Rückgangs der Wahlbeteiligung für die Demokratie bedeutet. Die Zahlen allein enthalten nichts Dramatisches. Bei Europawahlen wählen nur noch 40, bei Kommunalwahlen 50 und bei Landtagswahlen 60 Prozent der Wahlberechtigten. Bei den Bundestagswahlen sank die Wählerbeteiligung „nur“ von 90 (1970) auf rund 70 Prozent (2009/13). Politische Bedrohung sieht anders aus.

Betrachtet man jedoch die Zusammensetzung der Kohorte von 18 Millionen Nichtwählern (2013) nach Einkommen, Bildungsgrad und sozialer Schicht/Beruf, kommt man mit Schäfer zu dem Schluss: Nichtwählerschaft korreliert mit dem sozialen Status (Einkommen, Bildung und Beruf) in alarmierender Weise. Menschen mit Hauptschulabschluss wählen zu 50 Prozent nicht mehr, Erstwähler zu 80 Prozent. In Städten liegt die Differenz bei der Wahlbeteiligung zwischen den Wohnorten der Etablierten von oben und aus der Mitte und jenen von unten bei 40 Prozent. Das heißt, Wähler wohnen und arbeiten unter Wohlhabenden und Nichtwähler unter Randständigen.

So war Demokratie nicht gemeint, denn das bedeutet, dass 18 Millionen Nichtwähler ihre soziale Lage nicht verändern können, solange sich niemand für sie und ihre demokratische Beteiligung engagiert. Die zunehmende soziale Spaltung verhindert „automatisch“, dass ein demokratisch herbeigeführter sozialer Ausgleich überhaupt stattfinden kann. Wähler von oben und aus der Mitte sichern ihre Interessen durch Wahlbeteiligung, und die armen Nichtwähler bleiben, wo sie sind – außen vor, wirtschaftlich, politisch und sozial.

Die zunehmende soziale Spaltung verhindert, dass ein sozialer Ausgleich stattfinden kann

Die Gleichheit fehlt

Nur Zyniker können angesichts solcher Befunde das Nichtwählen als Zufriedenheit mit dem, was ist, verklären. „Demokratie ist untrennbar mit dem Versprechen politischer Gleichheit verbunden. Wer von der Demokratie spricht, der muss von der Gleichheit aller Bürger ausgehen.“ (Armin Schäfer)

Was in der EU Demokratiedefizit heißt und faktisch auf der Exklusion armer Randstaaten beruht, geschieht nationalstaatlich mit dem Ausschluss der Nichtwähler. Das Bündnis von Staaten in der EU begreift sich wie die Nationalstaaten als Demokratie und Rechtsstaat, in dem Freiheit, Gleichheit und Solidarität herrschen. Mit der Finanzkrise und den Flüchtlingsproblemen hat sich die Verpflichtung auf Solidarität und „loyale Zusammenarbeit“ so verflüchtigt, dass sich die Konflikte unter EU-Mitgliedern in den nationalen Parlamenten und nationalen Medien reproduzieren – als ideologischer Grabenkrieg. Den kostümieren konservative Parteien, Rechtspopulisten und konformistische Medien als ressentimentgeladene Konfrontation von „Nation gegen Nation“ (Jan-Werner Müller). Diese Konfrontation beruht auf Interessengegensätzen und sozialer Spaltung.

Die EU-Werteprediger und -wächter „Schuncker & Julz“ (Wolfgang Streeck) versuchen, diese Konfrontation mit ihrem Europa-Pathos verbal zu versüßen. Der Lissabonner Vertrag will bekanntlich keine gemeinsame Steuer- und Sozialordnung, obwohl nur diese einen sozialen Ausgleich zwischen Nord und Süd organisieren könnte. Einzig ein solcher Ausgleich garantiert für demokratiefähige und demokratiewürdige Verhältnisse. Dasselbe gilt für die politische und soziale Inklusion der Nichtwähler auf nationaler Ebene. Rudolf Walther

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