Türkei

Bei den zweiten Parlamentswahlen in diesem Jahr hat sich Präsident Erdoğan durchgesetzt. Was nun?

Kalkül des Präsidenten ist aufgegangen

Folgen Nach dem großen Wahlsieg der regierenden AKP fürchten sich Linke und Kurden in der Türkei vor der Zukunft. Außenpolitisch dürfte Erdoğan für Europa und die USA ein noch schwierigerer Partner werden

Istanbul am Sonntagabend: begeisterte AKP-AnhängerInnen vor der Parteizentrale Foto: Osman Orsal/reuters

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

„Ein Wahlsieg, der Angst macht“, titelte die türkische Tageszeitung Cumhuriyet am Tag nach dem Erdrutschsieg von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt). Das ist sicher nicht nur metaphorisch gemeint.

Cumhuriyet gehört zu den schärfsten Kritikern des Präsidenten – und der hatte vor der Wahl keinen Zweifel daran gelassen, dass er nach einem Sieg mit den wenigen verbliebenen kritischen Medien bald „aufräumen“ würde.

Vor der Zukunft fürchten sich auch viele Kurden im Land. „Erdoğan hat mit seinem Kriegskurs gegen die PKK die Wahl gewonnen. Er wird jetzt kaum den Krieg beenden, eher im Gegenteil“, sagte am Montag Saruhan Oluç, der für die HDP (Demokratische Partei des Volkes) kandidiert hatte und knapp einen Sitz im Parlament verfehlte.

Zwar versuchte die Führung der kurdisch-linken HDP ihren Anhängern noch in der Wahlnacht Mut zu machen. „Ihr braucht keine Angst zu haben“, meinte Parteichef Selahattin Demirtaş an die Kurden – und auch die türkischen Linken – gerichtet, „schließlich sind wir noch da und haben trotz aller Behinderungen den Sprung ins Parlament wieder geschafft.“

Aber die Niederlage der türkischen Opposition ist so niederschmetternd und umfassend, dass es daran nichts schönzureden gibt. Die HDP hat mit Ach und Krach den Wiedereinzug ins Parlament geschafft, doch auch das wird den Umbau der Türkei nach Erdoğans Vorstellungen nicht mehr stoppen.

Hätte die HDP die Zehnprozenthürde verpasst, wäre der Großteil der 59 Mandate der Kurdenpartei an die AKP gegangen – und Erdoğan hätte gleich als Erstes eine Präsidialverfassung durchs Parlament bringen können. Dafür wird er nun noch ein paar Monate mehr brauchen. Aber zu verhindern, davon sind nun fast alle Oppositionspolitiker überzeugt, ist es nicht mehr.

Erdoğan hat eine klare Agenda, die er nun umsetzen wird. Dazu gehört das Präsi­dial­system. Um die Verfassung zu ändern, braucht er jetzt nur noch – zusätzlich zu den jetzt errungenen AKP-Mandaten – weitere 13 Stimmen von anderen Parteien im Parlament.

Zu seinen großen Plänen gehört auch der Umbau der Gesellschaft in einen sunnitisch-islamischen Staat, in dem der Laizismus der Republik nur noch eine ferne Erinnerung sein wird. „Mein Ziel ist es“, sagte er schon vor mehreren Jahren, „in der Türkei wieder eine religiöse Generation zu erziehen.“

Zunächst geht es aber um die Kurden. Bei der jetzigen Wahl ist es Erdoğan und der AKP gelungen, einen Teil der konservativen, religiösen Kurden, die im Juni zur HDP gegangen waren, wieder zurückzuholen.

Deshalb hat die linke kurdische Partei 3 Prozentpunkte verloren, und deshalb kann Erdoğan der HDP auch ihren Anspruch, sie allein vertrete die Interessen der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, wieder streitig machen.

Aus der Sicht des Präsidenten ist der Krieg gegen die kurdische PKK-Guerilla kein Krieg gegen die Kurden, sondern gegen eine „Terrororganisation“ und deren Unterstützer. Da die Wahl gezeigt hat, dass ein großer Teil der Bevölkerung den „Krieg gegen die PKK“ unterstützt, während die Friedensgespräche mit der PKK der AKP an der Wahlurne geschadet haben, wird der Krieg, so ist zu befürchten, nun intensiviert werden.

Die Folge ist absehbar: eine neue blutige Runde im Südosten der Türkei und im Nordirak, wo die PKK ihre Rückzugsbasen hat. Wären nicht die USA vehement gegen den Einmarsch türkischer Bodentruppen im Nordirak, weil sie die Kurden dringend als eigenes Fußvolk gegen den Islamischen Staat brauchen, würde Erdoğan jetzt wohl bald den Marschbefehl erteilen.

Erdoğans Ziel sind ein Präsidialsystem und der Umbau der Gesellschaft in einen sunnitisch-islamischen Staat, in dem der Laizismus der Republik nur eine ferne Erinnerung sein wird

Selbst wenn die USA das wahrscheinlich verhindern können, ist Erdoğan nach seinem Wahlsieg für Präsident Barack Obama kein einfacherer Partner geworden.

Denn der türkische Staatschef will keine Übergangsregierung in Damaskus und keinen Kompromiss mit dem Assad-Regime. Stattdessen will er seine sunnitischen Freunde in Syrien an die Macht bringen. Bezeichnenderweise gehörte ein Zusammenschluss islamistischer Rebellengruppen aus Syrien zu den ersten, die ihm zu seinem Wahlsieg gratulierten.

Die innen- und außenpolitischen Gegner Erdoğans brauchen nun einen langen Atem. Einige haben das bereits realisiert. „Wer sein Leben dafür geopfert hat, dass die Türkei ein modernes demokratisches Land wird“, schrieb der bekannt linke Journalist Haluk Şahin gestern auf seiner Facebook-Seite, „kann sich keinen Pessimismus leisten“.

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