: „Keine Wahrheit in der Tasche“
RELIGION Zentrum für jüdische Skepsis erforscht, wieso orthodoxe Juden keinen Dogmen folgen
taz: Herr Veltri, warum beschäftigen Sie sich mit jüdischer Skepsis?
Giuseppe Veltri: Es ist grundlegend, dass wir hinterfragen, was Philosophie, Religion und Alltag sind. Auch für das Judentum war es schon immer wichtig, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Inwiefern skeptische Haltungen im Judentum zu finden sind, ist bisher aber wenig erforscht und dem wollen wir im neuen Zentrum für jüdischen Skeptizismus nachgehen.
Ist Skepsis heute noch im Judentum zu finden?
Selbstverständlich. Meine These ist, dass in der jüdischen Philosophie immer alles hinterfragt wird. Das Judentum hat keine orthodoxe Theologie erzeugt, es gibt also keine festen Leitsätze. Das gilt auch für die sogenannten orthodoxen Juden. Im Judentum gibt es einfach bis heute keinen dogmatischen Überbau, im Gegensatz zur katholischen Theologie.
Welche Rolle spielt die Skepsis im Alltag?
Der Skeptizismus ist keine Theorie oder Philosophie, sondern eine Haltung zum Leben. Deshalb spielt die Skepsis natürlich auch im Alltag eine große Rolle, weil man weiß, dass es auf die grundlegenden Fragen keine Antwort gibt. Sprichwörtlich wird im Judentum auf eine Frage immer mit einer Frage geantwortet.
Bietet der jüdische Glaube denn gar keine Antworten?
Ich befragte orthodoxe Juden, ob die Skepsis zum Wesen des Judentums gehört. Viele von ihnen haben mir da gesagt: Natürlich sind wir skeptisch, niemand kann uns garantieren, dass das, woran wir glauben, wirklich existiert.
Gibt es gar keine Dogmen im Judentum?
Doch, die gibt es. Auch in Israel spielt zum Beispiel das seit dem 11. September geltende Dogma der USA nach immer mehr Sicherheit eine große Rolle. Uns ist wichtig, mit unserer Forschung auch diesen politischen Dogmen zu begegnen. Von der Antike bis heute wurden die Dinge im Judentum immer in Frage gestellt.
Wie sieht das konkret aus?
In Israel wird alles diskutiert, es gibt keine These, die feststeht. Das sehen Sie auch, wenn Sie eine Sitzung des israelischen Parlaments besuchen. In der Knesset wird jedes Mal heiß diskutiert. Auch zum Thema Sicherheit finden Sie immer jemanden, der anderer Meinung ist. Keiner hat die Wahrheit in der Tasche.
Interview: Albert Wenzel
Eröffnung des Maimonides-Zentrums für jüdischen Skeptizismus: 18 Uhr, Uni Hamburg, Stabi, Von-Melle-Park 3
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen