Die Autorin Anke Stelling hat mit „Bodentiefe Fenster“ einen rundum gefeierten Roman geschrieben, in dem es um Muttersein in Prenzlauer Berg und daneben auch die Klassenfrage geht. Ein Gespräch über Baugruppen, die Blase Bullerbü, das vollmundige Versprechen von Freiheit – und wie die einen in die Ecke treiben kann: „Niemand benimmt sich freiwillig wie ein Depp“
Interview Susanne MessmerFotos Piero Chiussi
taz: Frau Stelling, wir treffen uns hier in Prenzlauer Berg, also im Epizentrum des Horrors, wenn man Ihrem aktuellen Buch Glauben schenken soll.
Anke Stelling: Ja, das kann man so sagen.
Und trotzdem leben und arbeiten Sie hier?
Ja, das tue ich. Genau wie Sandra, meine Romanheldin.
Sie beschreiben in Ihrem Buch „Bodentiefe Fenster“ eine überprivilegierte, überbesorgte Mutter von zwei Kindern in einer Baugruppe in Prenzlauer Berg. Diese Mütter haben in den letzten Jahren viel Schelte über sich ergehen lassen müssen.
Das stimmt, sie geistern schon seit mindestens zehn Jahren durch die Medien. Insofern wäre es nichts Neues gewesen, sich einfach ein weiteres Mal über sie lustig zu machen oder auf sie zu schimpfen – auf das Phänomen draufzuhauen. Mich interessiert viel mehr, warum sie wohl so geworden sind: niemand benimmt sich doch freiwillig wie ein Depp. Ich will ihnen literarisch auf die Spur kommen. Sandra, meine Hauptfigur, zeigt das typische Prenzlauer-Berg-Mutti-Verhalten. Außerdem hat sie aber auch noch die Gabe, zu sehen, wo das alles hinführen könnte – und davor zu warnen. Sie leidet in dieser Blase und unterstellt, dass die anderen auch leiden. Darum will sie alle retten: die Freundinnen, die Mitmütter, die Kaiser’s-Kassiererinnen.
Ist dieses Helfersyndrom von Sandra das zweite, vielleicht sogar das eigentliche Thema Ihres Buches?
Sandra ist eine Frau, die aus dieser Blase wieder rauskommen will – mitsamt allen anderen, die sich aber gar nicht retten lassen wollen. Denn die haben dieses Leben ja gewählt. Sie jammern und klagen zwar die ganze Zeit, aber es ist immer noch das Paradies, Bullerbü und so weiter, davon sind sie überzeugt. Also fällt Sandra natürlich auf die Nase mit ihrem Bedürfnis, die Leute zu retten.
Könnte Sandra auch woanders leben?
Ich glaube nicht, dass das Phänomen, das ich beschreibe, auf den Prenzlauer Berg beschränkt ist. Es zeigt sich hier stark, weil es hier einfach wahnsinnig viele Familien gibt, aber ich kenne auch andere Stadtteile, Städte und Gegenden, in denen es genauso zugeht. Es ist einfach nur bequem, dieses Phänomen irgendwohin zu packen und dann zu sagen, es betrifft mich nicht, weil ich in Niedersachsen wohne.
Ist Sandra eine Art moderne Seherin, eine zahme, bürgerliche Kassandra, die, anstatt am Ende erdolcht zu werden, in einer Kur auf einer langweiligen Nordseeinsel landet?
Kassandra ist eine irre, eine tolle Figur. Sie verkörpert eine wahnsinnige Ohnmacht, wird pathologisiert und weggesperrt. Sie findet einfach kein Gehör. Als Schriftstellerin kann ich mich sehr gut mit ihr identifizieren: Ich schreibe etwas, das nicht gelesen werden will.
Ihr Roman wird aber gerade sehr viel gelesen! Er stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, man hört, dass sich das Buch sehr gut verkauft.
Ja, das hätte ich nicht erwartet. Am Anfang war ich nervös, weil keine Besprechungen kamen, aber da meinte mein Verleger dann ganz optimistisch, das wird schon noch. Und er hatte recht.
Warum hat Sie das so überrascht?
Ich war ja Konzernautorin und bin wegen schlechter Verkaufszahlen rausgeflogen. Ich habe eine harte Zeit hinter mir, habe gedacht, ich kriege nie wieder was veröffentlicht, die Off-Szene lässt mich auch nicht mehr mitspielen … Und jetzt habe ich beim Verbrecher Verlag eine Heimat gefunden, und das Buch verkauft sich auch noch gut.
Sie haben also alle Vorteile abgegriffen?
Ja, absolut.
Wer sind Ihre Leser?
Der Mensch: Anke Stelling, geboren 1971, wuchs in Stuttgart auf und zog 1991 nach Berlin, um sich dort, wie sie selbst sagt, „mit Freunden und Freundinnen selbst auszubilden“ und an einem Marktforschungsinstitut Geld zu verdienen. 1997 ging sie nach Leipzig, um am Deutschen Literaturinstitut zu studieren. 1999 erschien ihr erstes Buch, „Gisela“ gemeinsan mit Autor Robby Dannenberg – eine Art schwarze Liebesgeschichte, zwischen einem jungen Tagedieb und einer Kassiererin. 2002 kehrte Anke Stelling nach Berlin zurück, heiratete, bekam drei Kinder und baute mit einer Baugenossenschaft ein Haus in Prenzlauer Berg. Seit 2001 lebt sie vom Schreiben. „Bodentiefe Fenster“ ist Anke Stellings fünfter Roman.
Das Buch: „Bodentiefe Fenster“ erschien im Frühling dieses Jahres im Berliner Verbrecher Verlag und schaffte es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis sowie auf die Hotlist 2015 als eines der zehn besten Bücher aus einem unabhängigen Verlag. Der Roman erzählt die Geschichte von Sandra, einer verheirateten Mutter zweier Kinder in Prenzlauer Berg. Sandra leidet unter dem Hauen und Stechen in der Baugruppe, am ewigen Sichbelauern und Sichvergleichen der „Richtigmacher und Rezeptverteiler“ in ihrem Haus derart, dass sie am Ende verrückt wird. Außerdem verzweifelt sie am Auftrag ihrer Müttergeneration, es besser zu machen und die Privilegien, die sie hat, zu nutzen, sich selbst zu verwirklichen, um jeden Preis, auch um den, die anderen links liegen zu lassen.
Ich habe während meiner Arbeit an dem Buch oft zu hören bekommen: Wer soll denn das lesen? Da kocht wieder mal eine im eigenen Saft, wen interessiert’s? Das hat sich nicht bewahrheitet. Ich bin viel unterwegs mit dem Buch, lese zum Beispiel vor ostsozialisierten 65-Jährigen, arbeitslosen Bibliothekarinnen und Rotariern. Ich habe viele Leserinnen getroffen, die ganz anders sozialisiert sind als Sandra und sich trotzdem dafür interessieren, wie man zum Beispiel mit einer Freundin umgehen soll, die sich von ihrem Mann schlecht behandeln lässt und es genau so will.
Aber ein Frauenbuch ist es schon eher geworden, oder?
Tendenziell schon. Ich habe von Männern gehört, die sagen, sie haben keine Lust, sich in so einen Strudel, so einen Wahnsinn einer Frau hineinziehen zu lassen – vielleicht sogar vor dem Hintergrund, dass sie das schon zu Hause haben und es ihnen ähnlich ergeht wie Sandras Mann, der seine Frau erfolglos versucht dazu zu bewegen, Distanz aufzubauen. Aber da will ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, da kriege ich sonst eins drauf.
Ach ja?
Ja, ich habe auch schon von Feministinnen Haue bekommen.
Dabei haben Sie ein feministisches Buch geschrieben.
Ich habe durchaus einen feministischen Anspruch. Allein mich zu trauen, so ein Buch zu schreiben, eine Stimme zu finden und radikal subjektiv zu sein – ganz in der Tradition engagierter Literatur …
… Sie meinen jetzt Literatur wie die von Christa Wolf und Ingeborg Bachmann?
Christa Wolf habe ich sogar zitiert in meinem Roman. Ingeborg Bachmann habe ich erst kürzlich gelesen. Ich finde es sehr interessant, was damals in der Literatur für Sachen möglich waren und wie das trotzdem eine Leserschaft gefunden hat – das ist heute unvorstellbar, wenn man sich mit manchen Lektoren unterhält.
Zurück zum Prenzlauer Berg. Wo man in diesem Stadtteil geht und steht: Immer wieder trifft man diese Leute, die sich fortwährend fragen, ob sie gute Eltern sind, ob sie es noch besser machen könnten, was aus ihren Idealen geworden ist, wo sie stehen …
… und ob sie sich schon zu sehr haben reinziehen lassen. Es ist furchtbar anstrengend.
Woran liegt es? Haben diese Leute zu viel Zeit zum Grübeln?
Ich glaube nicht. Sie haben wenig Zeit und viel Stress. Zu wenig Zeit, um noch einmal genauer nachzudenken. Ich kann es nicht so gut beschreiben, ich bin ja weder Soziologin noch Psychologin. Vielleicht so: Ich glaube, viele haben einfach Angst, einen anderen Weg einzuschlagen, der sich dann als der falsche erweist. Und dann umkehren oder dafür bezahlen zu müssen.
Was haben diese Leute, die sich fortwährend selbst prüfen, gemeinsam?
Viele sind in den neunziger Jahren nach Berlin gekommen. Das war eine große Aufbruchstimmung, eine große Möglichkeitenshow. Selbstverwirklichung und Freiheit, das war es. Diese Idee, alles auf einmal sein zu können, die kann einen aber auch kaputt machen.
Auch dies ist ein Thema des Romans.
Ja, es geht auch um die Frage, ob und wie weit man sich von seinen Ideen verabschieden und auf dem angeblichen Boden der Realität ankommen muss. Das ist ja schon eine sprichwörtlich gewordene Erwartung: Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz – wer es mit vierzig immer noch ist, hat keinen Verstand.
Sandra bekommt diesen Abschied von der Pubertät, dieses Erwachsenwerden nicht auf die Reihe.
Sie will immer weiter, bloß nicht nachlassen, nicht bequem werden, nichts auf die Kinder schieben, nicht sagen „So ist es halt“. Ich finde das bewundernswert: wirklich drauf zu pfeifen, was die anderen von einem denken. Das ist ganz schön schwer. Nicht mehr die Standards zu halten und die nette Nachbarin, Mutti und Kollegin zu mimen.
Interessant ist auch, dass Geld in den neunziger Jahren sehr selten Thema war.
Geld hat gestunken. Heute stinkt Geld nicht mehr.
Wie meinen Sie das?
Das Soziotop, das ich beschreibe, zerfällt in zwei Teile. Wer auf die Selbstverwirklichungsidee der Neunziger reingefallen ist, wer das alles wörtlich genommen hat, weiß jetzt vielleicht wirklich nicht mehr, woher das Geld kommen soll. Aber es gibt da eben auch sehr viele Leute, die direkt oder indirekt von ihren Eltern alimentiert werden. Die vielleicht jetzt noch ein bisschen rumwurschteln müssen, bei denen aber ganz klar ist, dass das Erbe kommt.
Sandra ist auch eine Erbin der Hippies?
Sandra hat einen Traum, einen Auftrag geerbt – aber keine Ahnung, wie sie den jetzt verdammt noch mal umsetzen soll.
Ihre Geschichte fängt 1968 an.
Als die Intelligenz das Proletariat umarmt hat, ja. Damals durften alle mitmachen. Sandras Mutter hat nicht studiert, ist eine einfache Frau. Sie muss sich alles heimlich draufschaffen, damit sie bei den Diskussionen im Kinderladen mithalten kann. Sie schafft es, dabei nicht aufzufallen, damit durchzukommen.
Auch das hat Sandra als Erbe mitbekommen?
Sicher. Sandra macht da was ganz Ähnliches. In ihrem Bauprojekt garantiert sie als Geringverdienerin die soziale Mischung, aber irgendwie sind ja auch alle ein bisschen prekär und treffen sich dann doch mit ihrer Bildung und den Büchern im Regal. Dass es aber am Ende in dieser von Geld regierten Welt doch drauf ankommt, wer welches hat und wer nicht, ist ein blinder Fleck, der Sandra ziemlich spät bewusst wird.
Es geht um die feinen Unterschiede?
Es geht um die Machtspiele hinter der Behauptung, dass alle gleich und wertvoll sind. Das wünscht man sich zwar, aber wenn es ernst wird, kommen die Unterschiede doch wieder zum Tragen. Sandra ist eine Person, die sehr anfällig ist für Parolen. Im Grips-Theater hieß es, dass Erkennen und Verstehen eine Waffe ist, die man nicht zerbrechen kann. Und das stimmt natürlich, es ist wirklich ein echtes, ernstes, gutes Anliegen – aber es gibt eben auch noch die anderen Waffen, die Sandra sehr spät erkennt. Wenn es keine Jobs gibt, dann hilft mir mein Studium nichts. Und wenn jemand Geld hat, dann kann er sich das Erkennen und Verstehen einfach kaufen, dann kann er dafür sorgen, dass andere den Mund halten. Oder nicht gehört werden.
Das klingt ja fast wie Klassenkampf!
Die Klassenfrage zu stellen ist momentan wenig schick. Ich stelle sie ja in „Bodentiefe Fenster“, wenn auch nur ganz zart. Aber in drei Viertel der Rezensionen wird das überhaupt nicht wahrgenommen. Ich glaube, ich muss sie noch einmal brachialer stellen.
Was kann eine wie Sandra tun, um aus diesem Hamsterrad der Sorge um sich und der Sorge um die anderen auszubrechen?
Wohin soll sie denn ausbrechen, mit den Kindern am Bein? Und in der Mitte des Lebens. Das ist echt eine schmerzhafte Erkenntnis. Dieses Älterwerden mit Utopien und Träumen, dieses Aushalten der vielen kleinen Schritte und vielen großen Rückschritte.
Gibt es keinen Ausweg?
Mein Vater zum Beispiel, der ist genauso ein Chamäleon wie Sandra. Und jetzt hat er lauter Freunde, die Weltreisen machen, ihre Kinder und Enkel unterstützen und in ihren leeren Einfamilienhäusern viel zu viel Platz haben. Bei ihm selbst hat das alles nicht so geklappt mit dem Wohlstand. Also schlage ich ihm vor, er sollte sich vielleicht lieber ein paar Freunde an der Trinkerbude suchen. So denke ich auch in Bezug auf Sandra. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie die Klassenfrage offener stellen und ihr Chamäleondasein aufgeben würde.
Vielen Dank für Ihre Offenheit! Gibt es einen Aspekt in diesem Interview, den Sie noch gern ansprechen würden, den ich vielleicht vergessen habe?
Hm. Bestimmt entsteht gerade ein Bild von mir. Aber kann ich das denn beherrschen?
Ich denke, beeinflussen könnten Sie es schon.
Ich wundere mich in letzter Zeit oft darüber, wie heftig Menschen reagieren, wenn es um die Kontrolle über ihr Erscheinungsbild geht. Gibt es denn ein Urheberrecht auf die eigene Erscheinung?
Sie sprechen jetzt wieder über Ihr Buch?
Natürlich. Es gibt Leute, die fürchterlich wütend auf mich sind, sich durch meinen Roman verraten fühlen. Also muss ich mir diese Fragen immer weiter stellen: Wem gehören eigentlich die Geschichten, nachdem sie bearbeitet wurden und erschienen sind? Wer darf sie wie erzählen?
Am Ende Ihres Buches kann Sandra in ihrem Büro hinter vergitterten Fenstern mit Blick in den Hinterhof besser schlafen als in ihrem Wohnprojekt mit den bodentiefen Fenstern. Geht es Ihnen manchmal auch so?
Als Schriftstellerin ist Literatur mein Mittel, die Welt zu verstehen. Ich schreibe in der Hoffnung, dass das auch anderen ermöglicht, ihre Welt zu verstehen. In der Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Sichtweisen – egal durch welche Art von Fenstern. Auch, indem man sich über die Figuren, die ich schreibe, ärgert. Aber da habe ich mich teilweise wohl getäuscht.
Das klingt nach einer großen Enttäuschung.
Kürzlich war ich zu einer Lesung in Dresden eingeladen, bei einem realen Wohn- und Kulturprojekt. Die wollten mit mir über genau diese Themen reden: Gruppe, Gemeinschaft, den Anspruch, was zusammen zu machen, und welche Blüten das dann treiben kann. Es war ein toller Abend.
Als Baugruppe braucht man viel Humor, um ausgerechnet Sie mit diesem Buch zu einer Lesung einzuladen.
Ja, Humor. Und den Glauben, dass Erkennen und Verstehen eine Waffe ist, die einen nach vorne bringt.
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