: „Sie war mir viel zu nah“
VERTRAUTE Anja Röhl liest aus ihrem Buch über ihre Stiefmutter,die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof
taz: Frau Röhl, was haben Sie als 15-Jährige gedacht, als Ulrike Meinhof Andreas Baader befreite und in den Untergrund ging?
Anja Röhl: Ich erfuhr von einer Freundin im Internat, Ulrike werde wegen Mordes gesucht. Im ersten Moment dachte ich, sie hätte meinen Vater umgebracht. Ich bekam einen Nervenzusammenbruch. Sie schrie mich an, es sei etwas Politisches. Dann erinnerte ich mich an ein anderes Ereignis, bei dem die Medien über Ulrike etwas behauptet hatten, was nicht stimmte und das mir Ulrike einleuchtender erklärt hatte. Deshalb habe ich nicht gleich alles geglaubt, was berichtet wurde.
War Ihnen klar, wie radikal sie war?
Kein bisschen, weil sie vorher mir gegenüber ganz anders aufgetreten ist. Ich habe ihre Radikalisierung so nicht empfunden: Sie war mir dafür viel zu nah.
Haben Sie mit ihr politisch diskutiert?
Davor ja: über Frauenemanzipation, autoritäres Erziehungsverhalten. Das waren alles Meinungen, die sie in ihren Kolumnen geäußert hat. Danach habe ich nicht mehr mit ihr diskutieren können ohne acht Bewacher, die jeden Satz dreimal unterbrochen haben. Politische Themen waren nicht erlaubt. Auch in unserem Briefwechsel waren keine politischen Themen erlaubt. Ich habe mich damit getröstet, dass wir uns über das alles unterhalten würden, wenn sie einmal rauskäme.
Wie hat sich Meinhofs Engagement im Familienleben abgebildet?
Als ganz besonders menschenliebend und freundlich. Sie ist mit mir ausgesprochen kindgerecht umgegangen und hat politische Themen nie forciert. Wir haben uns über Katzen unterhalten und auch über Kindererziehung. Dabei hatte sie sehr humanistische Auffassungen. Sie hatte viel Geduld mit meinen kleinen Halbschwestern.
Wie hat das Publikum bei Ihren Lesungen reagiert?
Überrascht, dass ich die 50er- und 60er-Jahre sehr gut einfange. Ich beschreibe die Adenauer-Zeit, den Kalten Krieg und mit der Zeugenschaft Ulrike Meinhofs auch die Radikalisierung und den Zerfall der 68er. Die Leute, vor denen ich lese, finden sich da sehr gut wieder.
Interview: Gernot Knödler
Lesung „Die Frau meines Vaters – Erinnerungen an Ulrike Meinhof“: 20 Uhr, Kulturzentrum Lola, Lohbrügger Landstr. 8
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen