: Die Hauptstadt könnte auch ganz anders aussehen
Stadtentwicklung Alternative Potenziale: Eine kämpferische Ausstellung in Berlin holt Architekturentwürfe, die nie realisiert wurden, aus dem Depot
Zwei hochragende Bürotürme am Kopf einer langen Passage, links und rechts davon fallen Grünflächen ab. Das Victoria-Areal an Berlins Kurfürstendamm hatte sich Rem Koolhaas 1988 als Mischung aus sozial und ökonomisch gedacht. Gebaut wurde sein Entwurf nie. Doch wer das Architekturmodell auf einer Spanplatte betrachtet, kann zwei Welten vergleichen. Heute steht auf dem Grundstück hinter dem Kranzler-Eck der sterile Glaskeil des Chicagoer Architekten Helmut Jahn.
Zu sehen ist Koolhaas’ Architekturmodell derzeit in der Berlinischen Galerie. „The Dialogic City: Berlin wird Berlin“ – der Beitrag von Berlins Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur zum diesjährigen Art-Week-Themenschwerpunkt „Stadt/Bild“ ist ein produktiver Etikettenschwindel. Denn der Architekt Arno Brandlhuber, Spiritus Rector der Ausstellung, ruft hier ein Berlin auf, das es nicht geben „wird“. Der größte Teil der Ausstellung besteht nämlich aus rund 500 Architekturmodellen: den ausgezeichneten, aber nicht realisierten Entwürfen öffentlicher Architekturwettbewerbe des Landes seit dem Jahr 1991.
Bisher lagerten die Modelle im Depot. Nun liegen sie verpackt in einem Regal im Museum: Gerhard Merz’ Entwurf für das Denkmal der ermordeten Juden Europas etwa in einer rissigen Holzkiste oder der Entwurf eines unbekannten Architekten für den Neubau einer Turnhalle für Blinde in Berlins Rothenburgstraße in einem vergilbten Umzugskarton. Bis zum Ende der Ausstellung im Frühjahr 2016 werden diese Modelle von Archivaren unter den Augen der Besucher ausgepackt und digitalisiert. Die Schau macht dieses alternative Potenzial also dem kollektiven Wissen zugänglich. Auch wenn nicht jedes der B-Modelle als Beleg gegen den konfektionierten Städtebau dient. Wer vor dem Konvolut steht, spürt, dass Berlin auch ganz anders aussehen könnte.
Mit Architekturarchäologie allein gibt sich ein Mann wie Brandlhuber natürlich nicht zufrieden. Seit Jahren ficht der unkonventionelle Architekt, Jahrgang 1964, für eine sozial orientierte „Raumproduktion der Berliner Republik“. Mit seinem Atelier- und Galeriehaus in der Berliner Brunnenstraße hatte er 2010 ein Zeichen gegen die architektonische Retroästhetik der Stimmann-Ära gesetzt.
Die Idee, das polyzentrische, durchmischte Berlin gegen den Vormarsch der segregierten Ghettos zu stärken, steckt auch hinter seiner „Intervention“ in der Berlinischen Galerie. In dem dicken, zur Ausstellung erschienenen Reader beschwört er ein „Stadtmodell, das die sozialen und kulturellen Unterschiede zusammen denken will“. Das „dialogische Prinzip“, das der Schau den Titel gibt, hat er dem französischen Philosophen Edgar Morin entlehnt.
Der Verzicht auf das übliche Ausstellungsdisplay ist Kalkül. Wir sollen uns das künftige Berlin gefälligst selbst denken. Dennoch fehlt der Schau der sinnliche Stimulus dafür. Einer, wie ihn Carsten Krohn 2010 in der Ausstellung „Das ungebaute Berlin“ lieferte, als er einhundert – ebenfalls nie realisierte – Projekte aus dem 20. Jahrhundert für Berlin von Hans Poelzig über Le Corbusier bis Peter Zumthor präsentierte.
Brandlhubers interessante Ideen gegen Wohnungsnot und Flüchtlingsströme: das leer stehende Flughafengebäude Tempelhof um acht Etagen aufzustocken, Mietshäuser für 6,50 Euro pro Quadratmeter als Wohn- und Arbeitsstätten zu konzipieren und einen bestimmten Anteil neuer Luxuslofts für Hartz-IV-Empfänger zu reservieren, bleiben so seltsam anschauungslos.
Und auch wenn er den Ansatz wiederbeleben will, den der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel als Regierender Bürgermeister von Berlin entwickelt hatte, wäre das eine ausstellungsgestalterische Anstrengung jenseits des Handapparates von Büchern wert gewesen, der jetzt in der Schau zum Blättern einlädt.
In seiner Regierungserklärung hatte Vogel 1981 ein Bodenrecht gefordert, „das Grund und Boden nicht wie eine beliebig vermehrbare Ware verhandelt, sondern wie ein elementares Grundbedürfnis, wie Wasser, Brot“. In der Hauptstadt der vergoldeten Townhouses liest sich eine Idee aus den Eighties plötzlich wieder so aktuell wie revolutionär.
Der silberne Reader, den die Besucher in Berlin statt Bilder von Projekten mitnehmen können, könnte eher im Bücherregal landen als Text für Text in den Köpfen. Sodass diese Schatzgrube kluger Ideen von Andrej Holm bis Niklas Maak dasselbe Schicksal erleiden könnte wie die Architekturmodelle im Depot: abgesunkenes Kulturgut in der Dunkelkammer der Kulturgeschichte. Ingo Arend
„Dialogic City: Berlin wird Berlin“. Berlinische Galerie. Noch bis zum 21. 3. 2016. Den 672-seitigen Reader, Verlag der Buchhandlung Walther König, gibt es in der Ausstellung kostenlos.
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