Debatte über Sterbehilfe: Kann Sterbehilfe Suizide verhindern?
Der Bundestag diskutiert über ein Verbot der Sterbehilfe. Dabei ist sie wichtig, um Suizide zu verhindern, meint Ludwig Minelli.
Auf einen gelungenen Selbstmord kommen zehn, die nicht zum Tod führen. Das sind Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Andere Untersuchungen sehen das Verhältnis sogar bei 1 zu 49. Was ist eigentlich mit all denen, die einen Suizidversuch überleben? Warum tauchen sie in der öffentlichen Wahrnehmung nicht auf?
Ludwig A. Minelli, der Gründer der Sterbehilfeorganisation Dignitas in der Schweiz, die mittlerweile auch einen Ableger in Deutschland hat, stellt sich dieses Frage auch. Denn misslungene Selbstmorde haben enorme Folgen: menschliche, gesundheitliche, soziale, ökonomische.
Minelli zählt einige im Gespräch, das in der taz.am wochenende vom 12./13. September veröffentlicht ist, auf: „Zu früh Gefundene, die sich erhängen wollten, haben Gehirnschäden. Menschen, die sich vor einen Zug warfen und überlebten, sind oft verstümmelt, Leute, die sich mit Schlafmitteln und Wodka in die Kälte legten, aber zu früh gefunden wurden, verlieren Arme und Beine. Die Folgekosten sind enorm. Für Deutschland mit jährlich rund 10.000 Suiziden bedeutet das, dass man mit bis zu 490.000 gescheiterten Suizidversuchen im Jahr rechnen muss.“
Seine Schlussfolgerungen sind radikal: Zum einen sollte seiner Meinung nach das Tabu um Selbstmord gebrochen werden. Man müsse aufklären über die Folgen. Und: Er fordert, dass Sterbehilfe und begleiteter Suizid erlaubt sein sollen. Wenn die Leute, die ihr Leben beenden wollen, wissen, es gibt eine Unterstützung, die sicher zum Tod führt, nehme dies den Druck von ihnen und verringere die Zahl der missglückten Selbsttötungsversuche. Die Zahlen in der Schweiz, wo Sterbehilfe erlaubt ist, sofern nicht eigennützige Motive vorliegen, gäben ihm recht.
Intelligent sein heißt lernen zu können. Das können auch Maschinen. Sie erkennen Emotionen in menschlichen Gesichtern und lernen zu sprechen. Muss uns das Angst machen? Lesen Sie ein Dossier über neuronale Netze und künstliche Intelligenz in der taz.am wochenende vom 12./13. September. Außerdem: Ludwig Minelli leistet in der Schweiz Sterbehilfe. Er findet, der Suizid sollte kein Tabu mehr sein. Im Interview spricht er über seine Arbeit, die vielen Suizide, die misslingen und die Kosten, die daraus folgen. Und: eine Reportage aus dem österreichischen Großraming, einem Dorf, das seine Angst vor Flüchtlingen verloren hat. Und das, obwohl die manchmal ohne Warnweste Fahrrad fahren. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
In Deutschland, wo passive Sterbehilfe und begleiteter Suizid nicht gesetzlich geregelt und von daher möglich sind, läuft die Diskussion gerade anders. Noch diesen Herbst will die Bundesregierung eine Entscheidung treffen. Tendenz: Sterbehilfe soll verboten werden.
Minelli, der Lobbyarbeit für die Wahlfreiheit des Sterbens macht, hält den Vorstoß der Bundesregierung für ein Ablenkungsmanöver, mit dem insbesondere der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, CDU, die konservative Klientel bedienen möchte. Minelli, der Journalist und Jurist ist, sagt: „Montesquieu, der Vater der europäischen Gesetzgebungslehre, sagte: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen. Ich sehe bisher in Deutschland nirgends den Nachweis einer Notwendigkeit.“
„Sagt der Arzt Nein, gibt es keine“
Im Gespräch räumt Minelli aber auch mit der Idee auf, dass es ein Leichtes wäre, zu einer Sterbehilfeorganisation zu gehen und dort sein Leben zu beenden. „Ein Mensch stellt ein Gesuch, er muss es begründen, schickt einen Lebenslauf, Arztberichte, Gutachten. Wenn es formell korrekt ist, legen wir es einem in der Schweiz niedergelassenen Arzt vor und fragen, ob er grundsätzlich bereit wäre, ein Rezept für das Medikament – es ist Natrium-Pentobarbital – in tödlicher Dosis auszustellen. Wir entscheiden nichts; wir bestimmen nicht über Leben oder Tod. Erst wenn der Arzt zustimmt, können wir die Freitodbegleitung anbieten. Sagt der Arzt Nein, gibt es keine.“
Was es aber bedeutet, einen Selbstmord zu überleben, zeigt sich am Leben von Viktor Staudt. Er sprang zu früh vor einen Zug, stolperte, fiel, seine Beine auf dem Gleis. Der Zug raste über ihn hinweg. Jetzt sitzt er im Rollstuhl und übt täglich das Überleben. In einem Porträt in der taz.am wochenende legt er sehr offen dar, dass jemand, der sich versucht umzubringen, in seinem zweiten Leben nicht glücklicher ist, die Ursachen allenfalls besser aussprechen kann, da er mit dem eigenen Suizid – und vor allem dessen Folgen – das Tabu gebrochen hat.
Was meinen Sie? Kann Sterbehilfe dazu beitragen, Suizide zu verhindern?
Diskutieren Sie mit!
Das große Interview mit Ludwig A. Minelli und das Porträt über Viktor Staudt, der seinen Suizid überlebt hat, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. September 2015.
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