Fotoausstellung in Hamburg: Ich und Ai Weiwei

Beweisfotos teilen ist kein neuer Trend: Hamburger Ausstellung führt durch die Wirkungsgeschichte der Fotografie, von Postkarten bis Instagram.

Zwei Smartphones

Nicht erst mit dem Smartphone erfunden: Trend zum Beweisfoto Foto: David Horvitz

HAMBURG taz | Alles klar, viele Fotos werden gleich zu sehen sein. Denn um was es geht, ist schließlich unmissverständlich im Ausstellungstitel der aktuellen Schau in Hamburgs Museum für Kunst und Gewerbe enthalten: “When we share more than ever“.

Das Foto selbst als ein Massenmedium, trägerlos gewissermaßen, das zugleich jeder von uns in die Welt schicken kann, aus dem Moment heraus, per Twitter, per Facebook, per Instagram oder Flickr oder was auch immer: Nie zuvor ist die Welt dank unseres Mittuns so sehr abfotografiert und zugleich so bilderüberflutet worden wie heute: Ja, diese Beschreibung leuchtet ein.

Aber dann bleibe ich am Eingangsbereich der Schau an einem Bild hängen, an einem einzelnen Bild, einer simplen Postkarte. Einer von damals. Sepia-bräunlich getönt steht sie aufgestellt hinter Glas. Sie zeigt im Format 10 mal 15 Zentimeter die drei St.-Loretto-Kapellen bei Oberstdorf im Allgäu, eingebettet in eine sanft hügelige und leicht verschwommen wirkende menschenleere Landschaft.

„Herzlichst grüßt Euch eure Gertrud u. Christian“ wurde auf dem weißen Rahmen am rechten Bildrand handschriftlich dazu getragen. Damit nicht genug: Jemand hat, ebenfalls handschriftlich, hinzugefügt: „Hier möchte ich auch sein.“ Wunsch also und Gesprächsangebot.

Karten mit Sinnsprüchen

Die Postkarte stammt von den Brüdern Theodor und Oscar Hofmeister. Theodor war Kaufmann und ist 1943 in Hamburg gestorben; Oscar war Justizangestellter, dessen Leben 1937 in Ichenhausen endete, das ist in Schwaben, in der Nähe von Ulm.

Beide waren neben ihrem Beruf leidenschaftliche Fotografen, die in den 1890er-Jahren regelmäßig in der Hamburger Kunsthalle Fotoausstellungen schauten, sich den Wiener Piktorialisten wesensverwandt fühlten.

Und glücklicherweise fanden sie später in München einen Verleger, der ihre sphärisch-archetypischen Motive („Morgenstunde“, „Es war einmal“, „Hinauf zum Licht“) mittels des Rakeltiefdrucks unter die Leute brachte. Das geschah in Büchern oder Postkartenserien, manche garniert mit Dichtersinnsprüchen.

Diese Karten waren weit mehr als nur Beweisfoto, dass man woanders tatsächlich war. Sie suchten vielmehr explizit ein Lebensgefühl visuell zu transportieren: Wo wir im Moment des Postkartenschreibens gerade sind, ist es schöner, als da, wo ihr seid. Und nun kommst du.

Ist das heute groß anders? Denken wir heute, wo es nahezu unmöglich ist, ein Handy ohne Kamera zu kaufen, nicht genauso wie Gertrud und Christian in ihrer vorgeblich so fernen Zeit: Irgendwo ist es schön oder irgend etwas ist gut – und davon wollen wir ein Bild mitnehmen, wollen es uns und anderen zeigen, damit die unsere Freude am Erlebten teilen oder mal so richtig neidisch werden.

Ganz anderes zeigt sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ausstellung: Der in Singapur lebende und arbeitende Künstler Heman Chong präsentiert seine Serie „God Bless Diana“, die aus 550 dicht aufgestellten, aber unterschiedlichen Postkarten besteht, die Alltagsmotive wiedergeben, getragen vom nur vordergründigen Charme des Banalen: Häuserfassaden, Mülleimer, Sträucher entlang des Wegesrandes.

Das ist gewiss eine Persiflage auf den Bestand an Postkarten unten im Eingangsbereich, im Museumsshop, wo der gemeine Besucher, der sich nie ein klassisches Kunstwerk wird leisten können, wenigstens eine Postkarte mit nach Hause nehmen kann.

Weshalb der Herr Chong noch einen Schritt weiter geht: Während die Karten der Brüder Hofmeister wie Ikonen hinter Glas stehen, kann man seine in die Hand nehmen und kaufen – für einen Euro – und noch heute einzeln nacheinander oder nach und nach in einem Schwung an seine 550 Freunde verschicken. Man kann aber auch mal allein an sich denken – und kauft sich in diesem Moment für gerade mal 550 Euro ein komplettes Kunstwerk.

So gestimmt, kann man nun den eigentlichen Ausstellungsbereich des Museums betreten, geschickt unterteilt in diverse thematisch sortierte Kabinette, die immer wieder die Spannung zwischen einst und heute aktivieren. Erhabenes ist zu sehen und Alltägliches; selbst Produziertes und Zitiertes.

Auch Klassiker, wie die New York-Fotografien von Andreas Feininger aus den 1940er- und 50er-Jahren füllen die Wände und treffen auf die Ergebnisse der fotoarbeitenden Historikerin Regula Bochsler, die ihre Stadtlandschaften der 3D-Flyover-Funktion von Apple-Maps verdankt.

Inspiration aus Japan

Die vom japanischen Farbholzschnitt inspirierte und sehr genau austarierte Landschaftsfotografie des Fotopioniers Kajima Seibei (1866–1924) wird mit den Arbeiten des Dortmunders Jens Sundheim konfrontiert, der seine Bilder aus dem automatisierten Bilderfluss der Webcam der Präfektur von Yamanashi generiert, die alle drei Minuten ein Bild des Berges Fuji ins Internet speist.

Das Genre der erotischen Fotografie wiederum spiegelt sich sowohl in den statischen stereoskopischen Aufnahmen seit den 1850er-Jahren, als auch den Aufnahmen der Spanierin Laia Abril. Sie zeigt uns junge Paare, die darauf warten, dass sich Kunden in die Webcam einwählen, um an ihrem angeblich privaten Sexleben teilzuhaben.

Sehr spannend ist es auch, die Arbeit des Amerikaners Doug Rickard kennenzulernen, der selbst nicht mehr loszieht, um die Motive für seine sozialkritische Fotografie auf der Straße zu finden. Er durchforstet stattdessen das Netz auf der Suche nach schlichten Handyaufnahmen oder wackeligen Videos, aus denen er seine eigenen Einzelbilder als Bestandsaufnahme eines verlorenen Landes gewinnt.

Das ist ein Verfahren, das die Frage nach der Kategorie der Autorenschaft noch mal erweitert: Sind die anonymen Knipser und Filmer die Urheber – oder sind es die Finder und Bearbeiter? Oder beide, weil längst der eine ohne den anderen nicht mehr auskommt?

Andererseits zeigt die Ausstellung Stationen, die zum Mitmachen einladen: „we share“, sozusagen. Da ist zum einen ein Display, das uns die Instagram-Seite von Ai Weiwei zeigt, auf der man hoch- und runterscrollen kann, auf dass die tägliche Fotobilderproduktion des wohl nach Mao Tse Tung berühmtesten Chinesen sichtbar wird.

Ai Weiweis Strategie, sich fortwährend zu zeigen, ist längst zum entscheidenden Moment seiner Kunstproduktion geworden. Weshalb sich auch bald offenbart, dass die Spannung immer dann steigt, wenn der Meister im übertragenen Sinne persönlich auf einem der Fotos auftaucht und diesem damit eine zusätzliche Gewichtung gibt: Dies ist ein fotografisches Selbstporträt Ai Weiweis, auf das ich, der Besucher, schaue.

Wer im Vergleich dazu ganz auf sich selbst zurückgeworfen werden möchte, der betrete bitte den nächsten, Raum, wo eine weitere Bildermachmaschine wartet: eine Suchmaschine, die die Internetseiten verschiedener Staaten nach einem eingegebenen Begriff durchforstet und innerhalb von Sekunden Fotos zu diesem Begriff aufblättert.

Abfrage im Selbsttest

Soll man ruhig mal selbst probieren! Also gebe ich meinen Namen ein und in Sekundenschnelle werden alle möglichen Gesichter gezeigt, die nicht mir gehören, darunter immer wieder das Gesicht des bärtig-smarten Psychologie-Professors Frank Keil von der Universität in Yale, das ich schon von gelegentlichen Google Image-Abfragen her kenne. Bis ich dann plötzlich doch zu sehen bin – auf einer Seite, die dem Iran zugeordnet wird, warum auch immer.

Danach tippe ich einfach so und ohne nachzudenken „Olaf“ und „Scholz“ ein – und der Bildschirm friert ein, das System stürzt ab, schickt schließlich eine Fehlermeldung und ist nicht wieder neu zu starten. Das ist jetzt nicht erfunden! Hätte ich doch nur ein Foto davon gemacht! Dann würde man mir jetzt glauben. Vielleicht.

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