: Wo das Spiel aufhört
Gewalt Sexuelle Übergriffe unter Kindern gehören zum Alltag. So vergeht kaum ein Tag an Kitas und Schulen, ohne dass Kinder ihre MitschülerInnen auf sexualisierte Weise beschimpfen oder zu sexuellen Handlungen zwingen. Nicht immer reagieren die betroffenen Einrichtungen adäquat, etwa weil die Nöte von Kindern nicht ernst genommen werden
VON Nina Apin
Der Stiefvater, der Sporttrainer, der Erzieher. Es sind stets erwachsene Täter, die einem in den Sinn kommen, wenn man von sexueller Gewalt gegen Kinder hört. Tatsächlich ist jeder fünfte polizeilich Tatverdächtige unter 21 Jahre alt. Männliche Minderjährige unter 18 Jahren tauchen mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sogar überproportional häufig in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) auf.
Etwas weniger kompliziert könnte man sagen: Sexuelle Übergriffe unter Kindern gehören zum Alltag. An Berliner Kitas und Grundschulen vergeht kaum ein Tag, ohne dass Kinder ihre MitschülerInnen als „dreckige Hure“ beschimpfen, ihnen an den Po oder zwischen die Beine fassen, sie mit vorgehaltenem Handy zu sexuellen Handlungen zwingen.
Schon unter den Kleinsten sind Grenzverletzungen häufig: Die Berliner Beratungsstelle „Strohhalm“, die kürzlich zehn Jahre Beratungspraxis auswertete, fand heraus, dass 60 Prozent ihrer Beratungsfälle Kitakinder bis 6 Jahre betreffen. 40 Prozent der beratenen Fälle betreffen Kinder im Grundschulalter bis 12 Jahre. Die Übergriffe richten sich hälftig gegen Jungen und Mädchen, rund drei Viertel derer, die aktiv Taten begehen, sind Jungen. Der größte Teil der Übergriffe findet in privaten oder von Erwachsenen nicht einsehbaren Räumlichkeiten statt: Schultoiletten, Spielplatzgebüsch, Horträumen. Oder in einer Tagesgruppe, wie in dem von uns beschriebenen Fall des elfjährigen Jakob, der von Gleichaltrigen sexuell gedemütigt wurde. (Seite 44/45)
2014 verzeichnete die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik in Berlin 71 Täter unter 14 Jahren, und 143, die zwischen 14 und 18 Jahre alt waren. Eine Zahl, die in den letzten Jahren relativ konstant blieb. Das Dunkelfeld aber, also alle Vorfälle, die nicht zur Anzeige oder nicht einmal Erwachsenen zu Gehör kommen, ist noch viel höher.
Grund zum Alarmismus besteht trotzdem nicht. Denn es ist keineswegs so, dass Berliner Kinder verrohen. Die Täterzahlen bleiben seit Jahren konstant – obwohl laut der Erfahrung von Fachleuten die Anzeigebereitschaft gestiegen und auch die Sensibilität von Pädagogen für dieses schwierige Thema größer geworden ist. Doch nicht immer, auch das beschreibt unser Fallbeispiel, reagieren die betroffenen Einrichtungen adäquat. Da werden Nöte von Kindern nicht ernst genug genommen, das Geschehene wird heruntergespielt, Eltern nur zögerlich oder unzureichend informiert. Aus Angst, den eigenen Ruf zu beschädigen. Oder, um eine Elternpanik zu vermeiden.
Schnelles und vor allem entschlossenes Handeln ist allerdings entscheidend, um Betroffene von sexueller Gewalt zu schützen. BeratungsexpertInnen raten dazu, bereits den Anfängen zu wehren: Denn wenn Kinder lernen, dass bereits das verbale Herabwürdigen von MitschülerInnen nicht toleriert wird, steigt die Hemmschwelle für Einzelne, weitere und härtere Übergriffe zu verüben.
Der Fall Jakob und Interview zur sexuellen GewaltpräventionSEITE 44, 45
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