Sexualpsychologie: Kannibale und Liebe

Im März 2001 tötete ein Sadist aus Rotenburg einen Masochisten, um ihn zu verspeisen. Die Tat gilt jetzt als "wissenschaftlich aufbereitet" - drei Bücher erzählen davon.

"Knusper, knusper, knäuschen..." in Rotenburg. Auch in Literatur und Mythologie ist Kannibalsismus ein Thema. Bild: dpa

Auf dem rot umrandeten Porzellanteller sind kleine Fleischstücke angerichtet. Die beiden Männer kosten davon. Zäh wie Leder, ungenießbar. Was vor Armin Meiwes und Bernd Brandes am 9. März 2001 zwischen frischen Tomatenscheiben auf den Tellern liegt, ist Brandes Penis. Gebraten und mit Salz, Pfeffer und Knoblauch abgeschmeckt.

Christoph J. Ahlers kennt die Szene. Er hat das Video gesehen, auf dem der Computertechniker Meiwes im März 2001 filmte, wie er den Berliner Ingenieur Bernd Brandes tötete und anschließend verspeiste.

Ahlers ist wissenschaftlicher und klinischer Mitarbeiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin am Universitätsklinikum Charité in Berlin. Dessen Direktor, Klaus M. Beier, war Gutachter in den beiden Prozessen gegen "den Kannibalen von Rotenburg". Im September 2007 hat er gemeinsam mit Ahlers ein Buch herausgebracht: "Sexueller Kannibalismus - eine sexualwissenschaftliche Analyse der Antropophagie".

"Der Werwolf von Hannover": Im Sommer 1924 wird Fritz Haarmann angeklagt, in 27 Fällen männliche Jugendliche ermordet und zerstückelt zu haben. Er wird wegen 24-fachen Mordes verurteilt und im April 1925 hingerichtet. In Hannover grassiert die Angst, unwissentlich Menschenfleisch zu essen, das von Haarmann in Verkehr gebracht worden war.

"Der Kannibale von Münsterberg": Ende 1924 finden Polizisten in der Wohnung von Karl Denke Fässer mit gepökeltem Menschenfleisch und Hosenträger aus Menschenhaut. In einem Notizbuch hat er 31 von ihm getötete Menschen mit Namen, Beruf und Gewicht erfasst. Unter den Opfern befanden sich nur vier Frauen.

Kannibalismus in den USA: Zwischen 1978 und 1991 tötet Jeffrey Dahmer 16 junge Männer. Einige der Schädel wurden bemalt in der Wohnung gefunden. Nach seiner Verhaftung gab er an, er habe Fleisch und Herzen einiger Opfer aufbewahrt, um es "irgendwann zu essen". Es findet sich aber kein Beleg, dass er das tatsächlich getan hat. Dahmer wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und 1993 von Mithäftlingen erschlagen.

"Der japanische Kannibale": Im Juni 1981 erschoss der Japaner Issei Sagawa eine holländische Literaturstudentin. Er tranchierte die Leiche und aß vier Tage lang von ihrem Fleisch.

Der jüngste Fall: Im August 2007 wird in Wien ein junger Deutscher wegen Kannibalismusverdachts festgenommen. Der 19-Jährige soll einen Obdachlosen mit einer Zehnkilohantel erschlagen und anschließend Organe aus dem Körper entnommen haben.

Im Februar 2003 beauftragte die Staatsanwaltschaft Kassel Beier und seinen Mitarbeiter damit, zu untersuchen, ob Meiwes schuldfähig ist, ob er wieder einen Menschen schlachten würde und ob er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Die Sexualwissenschaftler wühlten sich durch die Akten, sahen das Video und führten Gespräche mit Meiwes. Sie ließen ihn sexualmedizinische Fragebögen ausfüllen und machten psychologische Tests, sprachen mit Freunden und Verwandten der beiden Männer und besuchten das alte Gutshaus, in dem Brandes starb.

So ist das Bild, das Ahlers heute von Meiwes zeichnen kann, wesentlich detaillierter und reflektierter als das des "Menschenfressers", das während der Prozesse durch die Medienlandschaft geisterte.

"Meiwes ist ein freundlicher, aufgeschlossener, intelligenter Mann", sagt der 38-jährige Sexualpsychologe. Weder er noch Brandes hätten sich sonderlich von den hunderttausenden Menschen unterschieden, die im Internet nach Bekanntschaften und sexuelle Kontakte suchen. Anders, betont er, sei allerdings die extreme Ausprägungsform ihrer sexuellen Neigung - und die Tatsache, dass sie diese auslebten.

Die Sexualwissenschaftler betrachten Sexualität in drei Dimensionen: Lust, Fortpflanzung und Beziehung. Jede Dimension habe beim Einzelnen verschieden starke Bedeutung. "Brandes ging es fast ausschließlich um Lust, Meiwes dagegen vor allem um Beziehung", fasst Ahlers zusammen. Ein Zweckbündnis.

"Brandes sehnt sich nach dem maximalen Schmerz", sagt Ahlers. Die Qual soll ihm die Schuldgefühle nehmen, die er - so vermuten die Sexualwissenschaftler - wegen seiner Homosexualität hat. Der damals 43-Jährige wünscht sich, Penis und Hoden abgebissen zu bekommen, will dadurch "die symbolische Zerstörung seiner Sexualität". Um sicherzugehen, dass der 39-jährige Meiwes genügend Beißkraft hat, lässt Brandes sich noch vor dem Treffen der beiden Fotos von dessen Zähnen schicken. "Der Einsatz, das Gefühl zu haben, ist mein Tod", schreibt er an Meiwes. Sein Sterben ist lediglich die logische Folge: "Brandes will auf keinen Fall mit abgetrennten Genitalien in die Psychiatrie eingeliefert werden", sagt Ahlers. Er will seine "wertlose Existenz" beseitigt wissen. Was nach seinem Tod mit ihm geschieht, ist Brandes egal.

Dem Fetischisten Meiwes fehlt der Zugang zu diesem masochistischen Denken völlig. Sein Fetisch ist das Fleisch eines Mannes, den er sexuell attraktiv findet: Brandes Fleisch. Das will er zerlegen, zubereiten, zu sich nehmen. Der andere soll Teil von ihm werden. Sadistische Neigungen sind ihm fremd. Meiwes glaubt heute noch, dass der andere in ihm weiterleben wollte.

Berichte von Menschenfressern finden sich in allen Zeiten und Kulturen. Schon bei den alten Griechen verschlang Chronos, der mächtigste der Titanen, seine Kinder gleich nach der Geburt. Im Grimmschen Märchen "Hänsel und Gretel" will die Hexe den Jungen mästen und später fressen. Und beim christlichen Abendmahl opfert sich der Sohn Gottes selbst für einen kannibalistischen Akt. "Indem sich die Gläubigen den Leib und das Blut Christi einverleiben, entsteht Zugehörigkeit", schreibt Beier in seinem Buch.

Auch Meiwes geht es um Bindung. Wie alle Menschen sehnt er sich nach Geborgenheit und Nähe, nach Akzeptanz und Sicherheit. Seit seiner Jugend wolle er einen Menschen besitzen, der untrennbar mit ihm verbunden sei, der "mich nicht mehr verlassen" wird. "Auf die Frage, warum er alles auf Video aufgenommen habe", antwortete er, und hier hebt Ahlers die Stimme: "Alle Leute filmen ihre Hochzeit." Den Gutachtern sagte Meiwes, er stehe innerlich in Verbindung mit Brandes. Das gebe ihm ein gutes Gefühl.

Neben der sexualwissenschaftlichen Analyse von Beier und Ahlers sind im September zwei weitere Bücher zum Fall erschienen: Der Gießener Rechtsmediziner Manfred Riße untersuchte den Inhalt der Meiwesschen Kühltruhe und machte aus seinen Erfahrungen das Buch "Abendmahl der Mörder". Der ehemalige Bild-Journalist Günter Stampf veröffentlichte "Interview mit einem Kannibalen", in dem er sich von Meiwes seine Geschichte erzählen lässt.

Sie beginnt im Februar 2001. Im Internet lernen sich Brandes und Meiwes kennen. Die beiden hätten sich genauso verhalten, wie die meisten Menschen, die auf der Suche nach einem Partner sind, sagt Ahlers. Mit Imponiergehabe und Selbstbeschönigung, mit Halb- und Unwahrheiten. So behauptet Brandes in einer der vielen hundert Mails, die sie sich in langen Nächten schreiben, sieben Jahre jünger und einige Kilo leichter zu sein. Sie hätten sich und ihre Verbindung idealisiert, ist Ahlers überzeugt, sich vorgemacht, für einander geschaffen zu sein, "und wollten doch etwas Grundverschiedenes".

Sicher, den "Traumpartner" gefunden zu haben, verabreden sie sich. Am Morgen des 9. März 2001 holt Meiwes den Berliner Ingenieur am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe ab. Er hätte seinen Chatpartner gern länger kennengelernt, hatte sogar Kuchen gebacken, aber Brandes drängt auf Eile. Meiwes soll seinen Penis abbeißen. Als er das nicht schafft, nimmt er ein Messer. Gemeinsam versuchen sie anschließend, das abgeschnittene Geschlechtsteil zu essen. Später ersticht Meiwes seinen Partner und friert Teile von ihm ein.

"Wenn es nach Meiwes gegangen wäre, hätte Brandes sich am besten selbst umgebracht", sagt Ahlers. "Es war kein Lustmord." Die Sexualwissenschaftler gehen davon aus, dass Meiwes wieder einen Mann geschlachtet hätte, wäre das Verbrechen nicht entdeckt worden. Dann aber, sagt Meiwes, "ohne den ganzen Quatsch" mit Penisabschneiden zu Lebzeiten. Das habe er nur Brandes zuliebe gemacht.

So unfassbar das Geschehen ist, psychiatrisch krank war weder Brandes noch Meiwes. "Sie waren in sexualmedizinischer Hinsicht krank", sagt Ahlers. Das sei therapierbar. Sexueller Fetischismus und Masochismus sind wie Pädophilie oder Sadismus Störungen der sexuellen Präferenz. Ganz überwiegend seien Männer davon betroffen. "Das ist Schicksal und nicht Wahl", sagt Ahlers. "Man kann in diesen Fällen wirksam behandeln, aber heilen im Sinne einer Löschung des Problems kann man nicht." Im Rahmen einer Psychotherapie könnten die Betroffenen lernen, mit ihren sexuellen Bedürfnissen so umzugehen, dass sie weder sich noch anderen schaden. Medikamente könnten das unterstützen, indem sie das sexuelle Verlangen dämpfen: "So wird der Kopf frei zum Nachdenken."

Der Buchautor Günter Stampf schätzt, dass allein in Deutschland über 10.000 Menschen im Internet auf Foren unterwegs sind, die "Verspeist-Forum" oder "Menschenfleisch-Forum" heißen. Nicht jeder, der dort surfe, sei potenzieller Menschenfresser oder Schlachtopfer, relativiert Ahlers. Aber das Internet berge Gefahren: Neue Subkulturen entstünden hier, die gesellschaftliche Normen relativieren und durch eigene ersetzen. Die Hemmschwelle sinkt. "Die Wahrscheinlichkeit, dass es von der bloßen Fantasievorstellung zur Tat kommt, steigt."

Professor Beier und sein Mitarbeiter kamen in ihrem Gutachten zum Ergebnis, dass Meiwes keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Trotzdem wurde er wegen Mordes und Störung der Totenruhe zu lebenslanger Haft verurteilt. Gegen das Urteil hat Meiwes Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht.

Die Karlsruher Richter werden sich also wieder mit dem Fall auseinandersetzen müssen - und die Öffentlichkeit wird es mit Schaudern, Abscheu und Sensationslust verfolgen.

Klaus M. Beier: "Sexueller Kannibalismus". Urban & Fischer, 74,95 Euro Manfred Riße: "Abendmahl der Mörder". Militzke Verlag, 18 Euro Günter Stampf: "Interview mit einem Kannibalen". Seeliger Verlag, 19,90 Euro

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