15 Jahre nach dem Solingen-Anschlag: Die Lücke in der Stadt

Mevlüde Genc verlor fünf Angehörige bei dem Brandanschlag. Heute tratschen Solinger über die Familie. Über den schwierigen Umgang einer Stadt mit ihrer Geschichte.

Am Tatort bleiben die Kastanien. Und ein Gedenkstein. Bild: dpa

SOLINGEN taz Ausgerechnet Wolfgang Schäuble macht das. Der Christdemokrat, von 1989 bis 1991 Innenminister im Kabinett Kohl, damals wie heute Hardliner beim Thema Zuwanderung, repräsentiert in Solingen die Bundesregierung. An diesem Montag wird im Konzerthaus der Genc-Preis verliehen. Der soll, drei Tage vor dem 15. Jahrestag, an den rassistischen Brandanschlag erinnern, der zwei Frauen und drei Mädchen der Familie Genc das Leben gekostet hat. Titel der Veranstaltung: "Respektvolles Miteinander".

An den 15. Jahrestag des Anschlags erinnern diese Aktionen: 29. Mai, 18 Uhr: Gedenkveranstaltung am Mahnmal Mildred-Scheel-Berufskolleg, Beethovenstr. 225. Anschließend verleiht das Bündnis für Toleranz den Solinger Preis für Zivilcourage. 29. Mai, 19 Uhr: Gedenkkundgebung, organisiert vom Solinger Appell - Forum gegen Krieg und Rassismus, Untere Wernerstr./Ecke Schweizer Str. 30. Mai, 15 Uhr: Jugendkulturaktion: Bands, Theater, Kurzfilme, Clemensgalerie, Mummstr. 31. Mai, 12 Uhr: Demonstration 15 Jahre danach - Rassismus und Neofaschismus bekämpfen! Treffpunkt Mühlenplatz

Pflichtgemäß lobt Schäuble die Preisträger: den Kölner CDU-Oberbürgermeister Fritz Schramma sowie Kamil Kaplan. Dessen Angehörige starben im Februar bei einem Hausbrand in Ludwigshafen, türkische Medien sprachen von einem "zweiten Solingen" - Kaplan rief seine Landsleute zur Besonnenheit auf. Schramma schließlich erhält den Preis, weil er beim Bau einer Moschee zwischen Gegnern und Befürwortern vermittelt hat. Dass allerdings Parteikollegen von ihm aus Protest zur rechtspopulistischen "Pro Köln"-Bewegung übergelaufen sind, erwähnt der Bundesinnenminister mit keinem Wort.

Dabei hat die Angst vor dem Fremden Tradition in der Union: Ebenfalls vor 15 Jahren, am 26. Mai 1993, beschloss der Bundestag den sogenannten Asylkompromiss. Die Zahl der in der Bundesrepublik Schutz suchenden Flüchtlinge sollte massiv reduziert werden.

Dem vorausgegangen war eine jahrelange Kampagne von CDU und CSU zur Verschärfung des Ausländer- und Asylrechts. Der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe kreierte das Schlagwort von den "SPD-Asylanten". Damit meinte er Menschen, die ins Land hereinkämen, weil sich die Sozialdemokraten einer Grundgesetzänderung widersetzten. In einem Strategiepapier bat er seine Partei, das Thema weiter hochzuspielen.

Als auch noch die Bild-Zeitung mit ihrer "Das Boot ist voll"-Rhetorik Stimmung machte, warnte selbst ein Sozialdemokrat wie Münchens Oberbürgermeister Georg Kronawitter vor "Volksaufständen". Die SPD, deren Stimmen für die zur Änderung des Grundgesetzes nötige Zweidrittelmehrheit gebraucht wurden, knickte ein, der Asylkompromiss wurde Gesetz.

Bereits im Lauf der hitzigen Debatte werden die "Volksaufstände" Realität. Im sächsischen Hoyerswerda erzwingen im September 1991 Bürger in Pogromstimmung die Evakuierung eines Wohnheims für Asylsuchende. In Rostock-Lichtenhagen belagert vom 22. August 1992 an ein rechter Mob unter dem Applaus von 3.000 Schaulustigen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, Molotowcocktails fliegen, die Menschen in dem Gebäude überleben knapp. Im Oktober werden im niederrheinischen Hünxe zwei im Libanon geborene Kinder schwer verletzt. Immer mehr rassistische Vorfälle werden bekannt: aus Krefeld, Bremen, Bergen auf Rügen, dem Ostseebad Kühlungsborn. Im November brennt im schleswig-holsteinischen Mölln das Haus einer türkischen Familie, zwei Frauen und ein Mädchen sterben.

Schließlich, am 29. Mai, drei Tage nach der Bundestagsdebatte, brennt in Solingen das Haus der Familie Genc.

Die neunjährige Hülya Genc, die zwölfjährige Gülüstan Öztürk, an diesem Pfingstwochenende in Solingen zu Besuch, die 18-jährige Hatice Genc sterben in den Flammen. "Ich brenne", ruft der damals 15-jährige Bekir Genc - und springt, bevor die Feuerwehr ein Polster aufblasen kann. Er überlebt schwer verletzt. Die 27-jährige Gürsün Ince aber, Tochter der Familie Genc, stirbt genauso wie die vierjährige Saime Genc bei dem Versuch, sich mit einem Sprung aus dem Fenster zu retten.

Die Trümmer des Hauses rauchen noch, da wird der erste Verdächtige festgenommen. Es ist der Schüler Christian Reher. Der 16-Jährige wohnt nur 50 Meter vom Haus der Familie Genc entfernt, er gehört zur rechten Jugendszene Solingens. Bald darauf werden auch der Sozialhilfeempfänger Markus Gartmann, 23, der Gelegenheitsarbeiter Christian Buchholz, 20, sowie der Schüler Felix Köhnen, 16, verhaftet. "An der Kreuzung Schlagbaum kamen die Angeklagten schnell ins Gespräch", heißt es im Urteil des Oberlandesgerichts. "Schon bald wurde der Vorschlag laut, ,den Türken' einen ,Denkzettel' zu verpassen und ,ein Haus anzuzünden'. Der Angeklagte R. wies sofort auf das von der Familie Genc bewohnte Haus hin. Dieser Vorschlag fand sofort allgemeine Zustimmung. Dabei war man sich einig, ohne dass dies näher diskutiert wurde, Benzin zu beschaffen."

Heute klafft dort, wo das Haus der Familie Genc stand, eine Baulücke. Gemeinsam mit der Stadtverwaltung hat SOS Rassismus Terrassen angelegt und für jedes Todesopfer eine Kastanie gepflanzt. Nordrhein-Westfalens CDU-Sozialminister Armin Laschet lobt gern Solingens "vorbildliches Integrationskonzept". Anne Wehkamp, die Beauftragte der Stadt, versucht, die Verwaltung zu sensibilisieren, Migranten durch Sprachförderung zu helfen, bei der Arbeits- und Wohnungssuche zu unterstützen. Über aktuelle Themen berät ein Zuwanderer- und Integrationsrat. Der 1997 gegründete Jugendstadtrat organisiert für den Jahrestag am Freitag eine Aktion gegen rechts - Konzerte, Lesungen, Kunst. Das sei auch nötig, sagt Jugendstadtrat Justus Gather: Zwar wachse die Skinhead-Szene nicht, dafür gebe es aber immer mehr rechtsextreme Jugendliche, die sich mit Normalo-Klamotten tarnten.

Die Stadt finanziert auch das "Bündnis für Toleranz und Zivilcourage", das am Jahrestag des Brandanschlags Gedenkveranstaltungen organisiert und für "engagiertes und couragiertes Auftreten im Alltag" einen Preis mit dem Namen "Silberner Schuh" verleiht. "Für den mutigen Schritt nach vorn" stehe der Preis, erklärt der Geschäftsführer des Bündnisses, der hauptamtlich im Familienbüro der Stadt arbeitet. In diesem Jahr geht der "Silberne Schuh" an die Gesamtschule Solingen. Seit 1988 pflegen Schüler den 1941 geschlossenen jüdischen Friedhof. Sie haben Kontakt mit den in der ganzen Welt verstreut lebenden Angehörigen der dort Beerdigten. Mit der Familie Genc aber "hat das direkt nichts zu tun", sagt Michael Sandmöller, der Religionslehrer, der die Gruppe betreut.

Über die Verleumdungen gegen Mevlüde Genc spricht Sandmöller ebenso ungern wie die Integrationsbeauftragte Wehkamp. Die 65-Jährige Genc, die bei dem Anschlag fünf Angehörige verloren hat, wurde drei Jahre nach der Tat mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, weil sie zum friedlichen Zusammenleben von Deutschen und Zuwanderern aufgerufen hatte. In der Stadt wurde getratscht, sie habe sich unter Hinweis auf den Anschlag schon mal geweigert, ihre Einkäufe zu bezahlen. Und das neue Haus der Familie - bezahlt mit dem Geld der Versicherung und dem Kaufpreis für das Grundstück in der Unteren Wernerstraße - sei ja mehr als luxuriös, sogar einen Swimmungpool gebe es, erzählen Solinger noch heute. Tatsächlich gibt es dort statt Pool Brandschutzfenster.

Die Nachfrage, warum trotz Stadtratbeschluss noch heute keine Straße, kein Platz in Solingen an den Mordanschlag erinnert, ist den Verantwortlichen unangenehm. "Anwohner haben sich gewehrt. Sie fürchteten um den Wert ihrer Häuser", sagt etwa Frank Knoche, der für die Grünen im Stadtrat sitzt. Selbst das Denkmal, das an den Brandanschlag erinnert, steht nicht in der Stadtmitte. Stattdessen zerbrechen vor der zwei Kilometer entfernten Mildred-Scheel-Schule, die die damals 18 Jahre alte Hatice Genc besucht hat, Metallfiguren ein Hakenkreuz. In der Innenstadt sollte der "soziale Frieden" nicht gefährdet werden, lautet die Begründung dieser Standortentscheidung. Der Wall aus Metallringen mit den eingravierten Namen derer, die damit ihre Solidarität mit den Opfern des Anschlags ausdrücken können und der irgendwann das Hakenkreuz verdecken soll, wächst noch immer.

Gerüchte gibt es auch um die zu Strafen zwischen zehn und fünfzehn Jahren verurteilen Täter. Alle sind mittlerweile aus der Haft entlassen wurden. Zwei von ihnen, der aus einem linksliberalen Elternhaus stammende Felix Köhnen und Christian Buchholz, Sohn eines Handwerkers, haben nie gestanden. Der Arztsohn Köhnen, dessen Vater sich bei den "Ärzten gegen den Atomkrieg" engagierte, als Täter - das erscheint unvorstellbar.

Stattdessen kursieren Verschwörungstheorien über eine Verwicklung von Geheimdiensten: Bernd Schmitt, Betreiber der Kampfsportschule, in der die vier trainierten und die zum Anziehungspunkt für Rechtsextreme aus der ganzen Region wurde, war V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes. Bei Christian Reher, den manche für einen Einzeltäter halten, ist das anders - der wurde wegen Zeigens des Hitlergrußes noch einmal zu vier Monaten Haft verurteilt.

Vor "politischen Gewalttätern", die "schnell zuschlagen und dann in der Menge untertauchen", warnt am Montag im nur halbvollen Solinger Konzerthaus auch Wolfgang Schäuble. Auf das Leid der Familie Genc geht der Bundesinnenminister nur kurz ein. Für ihn ist der Jahrestag ein "Tag der Hoffnung" - wegen der versöhnlichen Haltung der Familie Genc.

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