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Rainer Bauböck über transnationale Migration"Langstreckennationalismus"

Bei Einbürgerungstests werden Werte abgefragt, die nicht spezifisch, sondern universell sind. Das lädt aufklärerisches Gedankengut neu auf, meint Migrationsforscher Rainer Bauböck.

taz: Herr Bauböck, welche Art von Zugehörigkeit braucht eine Demokratie?

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RAINER BAUBÖCK ist Migrationsforscher. Er war Senior Researcher am Institut für europäische Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2007 ist er Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Herausgeber von "Citizenship Policies in the New Europe", Amsterdam University Press 2007 und "Europas Identitäten - Mythen, Konflikte, Konstrukte", Campus Verlag, Frankfurt 2003.

Rainer Bauböck: Es braucht eine Akzeptanz der Grundwerte und des Rechtsstaates. In Europa gibt es aber einen neuen Trend, die Staatsbürgerschaft mit der Pflicht zur Teilnahme an der Zivilgesellschaft zu verbinden. Was neu auftaucht, ist die Vorstellung, man kann auch verpflichtet werden, sich freiwillig zu engagieren. Das ist die Wiederkehr der staatlich auferlegten Bürgertugenden. Und ich dachte, dass sei seit der Französischen Revolution erledigt.

Wie würden Sie Staatsbürgerschaft definieren?

Sie ist zunächst ein formaler Status. Aber Staatsbürger müssen sich auch zugehörig fühlen. Nur, wozu? Nicht zur Nation, nicht zur Kultur, schon gar nicht zur Religion. Das sollte so etwas sein wie ein minimales Grundverständnis von demokratischer Gemeinschaft, in der wir alle demselben Staat unterworfen sind und deshalb die gleichen Rechte haben.

Aber muss sich dieser Staat angesichts einer transnationalen Migration nicht verändern?

Ja. Die Nationalstaaten sind nicht mehr Container, in denen die Menschen gefangen sind. Das ist ja grundsätzlich etwas Befreiendes. Die demokratischen Staaten aber müssten anerkennen, dass Personen, die migrieren, auch noch eine Bindung an ihren Herkunftsstaat haben. Gleichzeitig aber erwirbt man als Wohnbürger einen Anspruch in dem Staat, in dem man sich dauerhaft niederlässt, ebenfalls als Staatsbürger anerkannt zu werden. Daraus entsteht so etwas wie ein Recht auf Doppelbürgerschaft.

Ist es das, was man unter dem Begriff "transnationale Staatsbürgerschaft" versteht?

Ja.

Diese würde den Individuen einen großen Spielraum lassen. Aber versucht man heute nicht, diesen eher abzuwehren, etwa durch die verpflichtenden Einbürgerungstests?

Wenn jeder Mensch sich jede Staatsbürgerschaft überall auf der Welt aussuchen könnte, dann würde die Bedeutung der Staatsbürgerschaft untergraben. Aber Menschen, die aufgrund ihrer Biografie, ihrer Lebensumstände Bindung an mehrere Gesellschaften haben, sollten auch einen Anspruch haben auf die Staatsbürgerschaft in diesen Gesellschaften. Dem steht gegenüber eine Vorstellung, ein souveräner Staat hat das Recht, selbst zu bestimmen, wer neues Mitglied in diesem "Club" der Staatsbürger wird. Und der Trend ist da, eher selektiver zu werden.

Unterliegt dem nicht ein negativer Kulturalismus, der sagt, man muss die Leute auf Herz und Nieren abklopfen, um zu schauen, ob sie ihren Gemeinschaftsvorstellungen anhängen oder ob sie sich schon zu den europäischen etwa durchgerungen haben?

Es ist nicht ganz so einfach. Das Paradox ist ja, dass das, was in diesen Tests vorgeschrieben wird, im Grunde genommen Werte sind, von denen man gar nicht behaupten kann, dass sie spezifisch sind für die jeweilige Gesellschaft, etwa die Gleichheit der Geschlechter. Das ist ein universeller Wert. Das hat nichts zu tun damit, wo man sich einbürgert. Aber die Unterstellung ist: Wenn du eine bestimmte Herkunft hast, dann ist das nicht so selbstverständlich, dass du diesen Wert teilst, und du musst dich erst einmal dazu bekennen. Insofern gibt es diese indirekte Kulturalisierung, die aber das Ergebnis ist einer neuen Aufladung eines aufklärerischen, universalistischen Werteguts: Wir halten jetzt unsere universalistischen Werte hoch, weil wir euch unterstellen, dass ihr sie nicht teilt. Und dadurch definieren wir neu, wer den Anspruch hat, dazuzugehören.

Es gibt aber nicht nur Abwehrstrategien seitens des Staates, sondern auch seitens der Migranten. Ist eine Diaspora für Sie eine Abschottungsstrategie?

Nicht unbedingt. Der Unterschied, den wir in den Migrantencommunitys beobachten, ist eher jener zwischen den Aktivisten, die transnational aktiv sind, sich sowohl hier als auch dort engagieren, und den Passiven. Und das Integrationsproblem gibt es überwiegend mit den Passiven, die sich zurückziehen in eine Lebenswelt, in der sie wenige Kontakte haben mit der weiteren Gesellschaft. Außerdem muss man sagen, dass Diaspora ein politisches Projekt bestimmter Eliten ist.

Wie meinen Sie das?

Es gibt das Phänomen eines diasporischen Langstreckennationalismus, wie das Benedict Anderson genannt hat, wo die Diaspora politische Konflikte im Herkunftsland schürt - durch Finanzierungen, durch Waffenlieferungen oder sogar durch Rekrutierung von freiwilligen Kämpfern. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist das, was ich demokratische Rücküberweisungen genannt habe. Es wird heute viel diskutiert über die positiven Wirkungen der Geldrücküberweisungen in die Herkunftsländer. Man findet aber auch das politische Phänomen, dass Einwanderer in demokratischen Staaten positive Erfahrungen mit der Demokratie rückexportieren und dort auch zu demokratischen Übergangsprozessen beitragen. Wie etwa der Demokratisierungsprozess in Mexiko zeigt, der sicherlich auch gefördert wurde durch die mexikanischen Auswanderer in den Vereinigten Staaten. INTERVIEW: ISOLDE CHARIM

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