Neues Album von "Atom TM": Das weiße Rauschen

Uwe "Señor Coconut" Schmidt wirft mit Verweisen nur so um sich. Mit "Liedgut" schlägt er eine Brücke von der Romantik zu Kraftwerk.

Dandy par excellence: Uwe "Señor Coconut" Schmidt Bild: Dieter Wuschanski

Weißes Rauschen ist, ins Kitschige gesprochen, so etwas wie das Nirwana des Klangs, gleichberechtigtes Nebeneinander aller Frequenzen von null bis unendlich. In seiner gesamten Bandbreite praktisch unmöglich herzustellen, bildet dieses gleichförmige Frequenzspektrum die Grundlage analoger Synthesizertechnik: Man filtert so lange aus dem Vollen der Schwingungen, bis der gewünschte Sound übrig bleibt. Oder man lässt alles, wie es ist, dann zischt es aus dem Instrument wie ein stimmloses "sch" - so wie zu Anfang und Ende von Atom TMs aktuellem Album "Liedgut".

Strenge Konzepte mit viel Sinn für schrägen Humor zu verfolgen, ist eine der Spezialitäten von Uwe Schmidt alias Atom TM, besser bekannt als Atom Heart oder Señor Coconut. Vor zehn Jahren bastelte der in Santiago de Chile lebende Produzent unter dem Pseudonym Lassigue Bendthaus ein Album mit "Pop Artificielle", elektronischen Versionen von Hits der Rolling Stones oder von Prince, die er mit einer selbst programmierten Computerstimme zum Besten gab. Ein Jahr später schoss er sich mit seinem Projekt Señor Coconut in die Gewinnzone, als er auf "El Baile Aleman" Kraftwerk in Gestalt von Latino-Robotern reanimierte. Auf "Liedgut" hört man wieder die knarzende Computerstimme von "Pop Artificielle", auch Kraftwerk kann man heraushören, nur diesmal nicht in Coverversionen, sondern verstreut als Zitat.

Das neue Album von Atom TM ist aber viel mehr als eine lustige Hommage mit seltsamem Gesang. Es ist Schmidts Entwurf zur elektronischen Musik, in dem er die Romantik als Vorbild für deutschen Pop à la Kraftwerk und funktionalen Minimalismus seziert und neu arrangiert. Schon Kraftwerk benannten auf ihrem Klassiker "Trans Europa Express" ein Stück nach dem Romantiker Franz Schubert, der mit seinen Liederzyklen rasch zum Monopolisten des Kunstlieds aufstieg. Uwe Schmidt versteckt Schubert in Anspielungen wie dem anachronistischen Albumtitel oder in instrumentalen "Compositionen", für die er Schubert-Zitate aufgreift und bis zur Unkenntlichkeit neu kombiniert.

Waren Schmidts frühere Tribute - bei aller stilistischen und technischen Perfektion - manchmal auf krude Weise offensichtlich, hält sich der Musiker diesmal streng zurück. "Liedgut" ist zwar vollgestopft mit Referenzen, doch zugleich so elegant und reduziert wie seine Vorbilder Schubert und Kraftwerk selbst. Am schönsten im genial schlichten Lied "Weißes Rauschen (erster Teil), bei dem die s-Laute komplett von einem Rauschgenerator stammen.

Schmidt geht es auf seinem neuen Album vor allem um Einfachheit, wie sie ihm im Titel einer Wiener Ausstellung über das Biedermeier begegnete. In den Augen des Produzenten, der seine Stücke von einem cremefarbenen Polstersessel aus programmiert und offen zugibt, bei der Ausstattung seines Studios mittlerweile lieber auf Zeitschriften über Inneneinrichtung als auf Keyboard-Magazine zurückzugreifen, ist die Gegenwart der elektronischen Musik sehr deutlich von den Gedanken der Romantik und des Biedermeier bestimmt.

In diesem Kosmos hat auch der Physiker Hermann von Helmholtz seinen Platz, Titel wie "Wellen und Felder" deuten auf den Erfinder der Resonanztheorie des Hörens. Der Hinweis zu Helmholtz kam von keinem Geringeren als dem Ex-Kraftwerker Florian Schneider, von dem auch die gesprochene "Ausleitung" des Albums stammt. Schneiders dadaistische Rekombinationsübung zu "Es klappert die Mühle am rauschenden Bach" schlägt mit ihrem Wortspiel kurz mal eben den Bogen zu Johann Sebastian Bach, dem heimlichen Säulenheiligen vieler Elektroniker. Eine derart umfassende Musikgeschichtsverdichtung als im besten Sinne des Worts unterhaltsamen Pop auf 35 Minuten unterzubringen, ist eines der Wunder von "Liedgut". Schmidt, der schon viele tolle Alben - zum Teil im Monatsrhythmus - herausgebracht hat, ist ein ganz großer Wurf gelungen, allen Befürchtungen des grassierenden Bedeutungsverlusts von Musik zum Trotz.

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