Wildtiere: Mit den Wölfen heulen

Im Wisentgehege Springe südlich von Hannover wird ein sechsköpfiges Wolfsrudel großgezogen. Als menschlicher Leitwolf fungiert der 48-jährige Matthias Vogelsang. Die ersten zwei Monate verbrachte er Tag und Nacht bei den Welpen.

Mag Wölfe: Matthias Vogelsang im Wisentgehege Springe. Bild: Thomas Hennig

Für Matthias Vogelsang ist es nichts Ehrenrühriges, mit den Wölfen zu heulen. Im Gegenteil. Wenn er morgens bei seinem Rudel im Wisentgehege Springe eintrifft, begrüßt er die sechs Vierbeiner mit einem laut anschwellenden Wouhuu-Wouhuu. Aus sechs Wolfskehlen schallt ihm dann ein Echo entgegen. Vogelsang übersetzt: "Sie freuen sich, dass ich komme." Der Mann beherrschst eine Sprache, die außer ihm wohl nur wenige verstehen, geschweige denn sprechen: Wölfisch.

Seit April 2010 haben im Wisentgehege Springe südlich von Hannover vier nordamerikanische Timberwölfe ihr Zuhause, im Juli kamen noch zwei kleine Polarwölfe hinzu. Das neue sechsköpfige Rudel steht im Zentrum eines Forschungsprojekts zum Wolfsverhalten und zur Interaktion zwischen Mensch und Wolf. Der 48-jährige Vogelsang ist der Leiter des Projekts, aber er ist gleichzeitig viel mehr: er ist Mutter- und Vaterersatz für die jetzt noch jungen Wölfe und in den nächsten Jahren auch ihr Leitwolf. Als solcher will Vogelsang sie ihr ganzes Leben lang begleiten. "Wer so verrückt nach diesen Tieren ist wie ich", sagt er, "der muss wohl selbst etwas vom Wolf in den Adern haben". Seine Leidenschaft ist gleichzeitig auch eine Mission: Er will mit den Jahrhunderte alten Vorurteilen vom bösen, gefährlichen und blutrünstigen Wolf aufräumen und den Menschen zeigen, wie diese Tiere wirklich sind.

Wolfsvater Vogelsang hat die Babys schon in den ersten Tagen nach der Geburt in seine Obhut genommen. Von ihrer Mutter waren sie verstoßen worden, und Vogelsang beförderte die Kleinen aus ihrem ungarischen Wildauffanggehege auf sein Anwesen in der Nähe von Northeim. Dort nahmen die Babys in der Küche Quartier. Jedes einzelne brachte Vogelsang mit der Flasche und seiner stetigen Präsenz durch die schwierigen ersten Wochen. Seine Frau Birgit half ihm dabei. Für den gelernten KFZ-Meister ist das Engagement für die Wölfe zur Lebensaufgabe geworden.

Wer einen Wolf großziehen will, der muss sich wie ein Wolf verhalten. Vogelsang heulte seine Schützlinge in den Schlaf, kaute ihnen die ersten Fleischbrocken vor und würgte sie ihnen ins Maul, genau so, wie es eine leibhaftige Wolfsmutter getan hätte. Als es nach sieben Wochen von der Vogelsangschen Küche ins zukünftige Wolfsrevier im Wisentgehege ging, campierte er zwei Monate lang mit seinen Kleinen im Stroh und wich Tag und Nacht nicht von ihrer Seite.

Neben Kuscheln und Fürsorge steht allerdings noch etwas anderes auf dem wölfischen Erziehungsplan: Respekt vor dem Ziehvater. Denn spätestens nach zwei Jahren sind aus den süßen Knuddeltieren kapitale, geschlechtsreife Wölfe geworden, und dann sollte Vogelsangs Position im Rudel unangreifbar sein. Sonst könnte es Ärger geben. So muss der Wolfschef schon jetzt dafür sorgen, dass später keiner seiner Zöglinge auf die Idee kommt, ihm den Rang streitig zu machen.

Mit dem in vielen Hundeschulen praktizierten Leckerli-Training wird man beim Wolf nicht weit kommen. Denn während der Hund sich gut dem Menschen anpasst, muss der Mensch sich auf den Wolf einstellen. "Wenn ich hier im Gehege bin", sagt Vogelsang, "dann lasse ich mich verwolfen und lege den Menschen ab. Wölfe sind Wildtiere."

Gerade wegen ihrer Unabhängigkeit findet Vogelsang diese Wesen faszinierend. Sie seien zwar wilde Tiere, aber uns in vielerlei Hinsicht ziemlich ähnlich. Ihn begeistert die Intelligenz der Wölfe, ihr komplexes Sozialverhalten und ihre ausgeprägt arbeitsteilige Lebensweise. "Im Wolfsrudel hat jeder seinen Platz und seine Aufgabe", erklärt er. "Wenn ein Tier nicht mehr auf die Jagd gehen kann, ist es beispielsweise für die Bewachung der Höhle zuständig." Vogelsang schwärmt: "Alles was Hunde können, können Wölfe zehnmal besser."

Seit seiner Jugend verschlang er alles, was an Literatur zum Thema Wolf zu kriegen war. Irgendwann lernte er den aus Ungarn stammenden Tierforscher und Wolfstrainer Zoltan Horkai kennen. Horkai vermittelte ihm den ersten leibhaftigen Kontakt mit einem Wolf, und Vogelsangs Wolfsleben begann. Zu Hause hat er inzwischen ein eigenes 5.000 Quadratmeter großes Gehege mit einem achtköpfigen Rudel. Wenn er sich nicht gerade um seine Jungwölfe im Wisentgehege kümmert, dann verbringt er die Zeit gern dort. Auch nachts tauscht Vogelsang immer wieder das Bett gegen ein Strohlager zwischen den Wölfen.

Im Wisentgehege Springe sind Yakima, Tala, Akela und Nantan, so heißen die vier Timberwölfe, sowie die zwei noch namenlosen Polarwölfe derzeit die Attraktion. Nachmittags um vier ist Fütterung und meist versammeln sich dann etliche Fans vorm Wolfsrevier. Wenn alle -Wölfe, Wolfsvater und Publikum - in Stimmung sind, wird gemeinsam geheult, und manchem Damhirsch nebenan mag es dabei Angst und Bange werden.

Als besonderes Angebot für Wolfsfreunde, haben sich Vogelsang und die Wildpark-Leitung die Aktion "Wolfspfleger auf Zeit" ausgedacht. Wer will, kann Vogelsang für einige Stunden bei der Wolfsbetreuung begleiten. Dabei geht der Gast mit dem Rudelchef ins Gehege, die kleinen Wölfe kommen dann meist neugierig heran, um den Besucher vorsichtig zu beschnuppern. Wen die Tiere mögen, der darf mit einer herzlichen Begrüßung rechnen.

Ein ganzer Tag mit den Wölfen kostest 160 Euro, ein halber 90. Außerdem kann man eine Fotosession oder einen Spaziergang mit Wolfsvater Vogelsang und einem der Wölfe an der Leine durchs Wisentgehege buchen. Die Aktion läuft demnächst aus. Dann muss Vogelsang neu entscheiden, ob er seinen Schützlingen den direkten Kontakt mit Nicht-Wölfen noch gestatten kann - ihm selbst natürlich ausgenommen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.