Ärzte-Klagen über zu geringes Einkommen: Volle Jammerkraft voraus

Immer weniger Geld für immer mehr Arbeit - fragt man Ärzte, geht es dem Berufsstand zunehmend schlechter. So schlimm ist es gar nicht, widerspricht ein Mediziner seinen leidenden Kollegen.

Kein freier Beruf ist seltener von Insolvenz betroffen als Ärzte - und fühlt sich trotzdem so insolvent. Bild: dpa

"Ja, Sie haben es ja auch nicht leicht!" Konsterniert blicke ich in das mit christlicher Nächstenliebe angefüllte Augenpaar. "Äh, nun ja, wie meinen Sie das?", frage ich irritiert zurück. Im Geiste scanne ich mein berufliches und privates Leben ab, potenzielle Quellen übler Nachrede, Maulwürfe, Gerüchteköche? "Na ja, die Ärzte verdienen ja kaum noch was, das ist sicher nicht leicht für Sie." Ach, das nun wieder. Dergleichen höre ich mittlerweile häufiger von Patienten, je nach medialer Konjunktur. In diesem Fall kommt das Mitgefühl pikanterweise von einer Nonne.

Anders als sie habe ich mein Leben nicht der Armut gewidmet und diese sich mir auch noch nicht. Daher finde ich das Mitleid der Gottesfrau nicht korrekt adressiert. Denn noch reicht es bei mir. Wie kommt es nur dazu, dass sich Ärzte schon von ihren Patienten bemitleiden lassen müssen?

Das hat viele Gründe. An der breiten Verelendung des Berufsstandes liegt es aber nicht. Diese Selbstwahrnehmung entspricht nämlich eher selten der Wahrnehmung seriöser Ökonomen. Denn den ÄrztInnen geht es anscheinend so gut, dass es keinen freien Beruf gibt, der seltener von Insolvenz betroffen ist. Und auch in der Einkommensteuerstatistik führen die freiberuflichen Ärzte und Zahnärzte - weit vor allen anderen freien Berufen wie Rechtsanwälten, Steuerberatern und anderen Heilberufen.

Das System der gesetzlichen Krankenversicherung, auf das zu schimpfen zum guten Ton von Ärzten, Standesvertretern, Patienten und populistischen Politikern gehört, sichert die Kontinuität der ärztlichen Einnahmen in einem Maße, von dem andere Selbständige nur träumen können. Korrigiere mich, wer kann.

Es gibt auch keine besser aufgestellte ständische Interessenvertretung als die der Ärzte. Von den Piloten- und Lotsenvereinigungen mal abgesehen. Das ist wichtig - denn die Fähigkeit der Erregung öffentlichen Mitleids korreliert mit dem Organisationsgrad einer Gruppe. Diese bestimmt die Jammerkraft. Als Einheit dieser Kraft schlage ich den Hartmann vor - inspiriert vom gleichnamigen Ärztebund. Ein Hartmann entspricht der Jammerkraft, die nötig ist, einen Jammerartikel in einer mittelgroßen Tageszeitung auf Seite 5 unterzubringen. So etwas wie "Immer mehr deutsche Ärzte gehen ins Ausland" oder "Kein Arzt will mehr aufs Land". Dass es nur wenige Länder gibt, die bessere Bedingungen für ÄrztInnen bieten als Deutschland, wird systematisch verschwiegen. Dass viele Medizinier wieder zurückkommen und viele ausländische ÄrztInnen gerne in Deutschland arbeiten wollen, auch.

Aber es gibt auch gute Gründe für ärztliches Selbstmitleid. Ökonomische Zufriedenheit ist eine Differenzerfahrung. Das heißt, ich bin zufrieden, wenn ich dieses Jahr mehr verdiene als letztes Jahr. Wenn ich mir mehr leisten kann als meine Eltern. Oder mehr als der Angeber aus meiner Schulzeit, der mir beim letzten Abiturtreffen wieder auf die Nerven ging.

Mehr verdienen als letztes Jahr: Das heißt, an der durchschnittlichen Steigerung der Produktivität in der Gesellschaft teilzuhaben. Mindestens. Im System der gesetzlichen Krankenversicherung ist das ärztliche Einkommen zum Großteil abhängig von der Entwicklung der Löhne und Gehälter. Diese stagnieren real aber seit Jahren. Jammer ist da schon angebracht. Dieser sollte aber von Gewerkschaften vorgetragen werden, mit druckvollen Maßnahmen flankiert. Dass ÄrztInnen ihre Interessenkonvergenzen mit den Gewerkschaften geradezu zwanghaft ausblenden und sich stattdessen mehrheitlich der FDP an die Brust werfen, ist Ausdruck ärztlicher Unfähigkeit, politisch-ökonomische Zusammenhänge zu begreifen. Die Naivität, mit der jetzt ärztlichen Standesvertretern angesichts der Aktionen von Gesundheitsminister Rösler die Kinnlade herunterfällt, illustriert diese Begriffsstutzigkeit.

Mehr verdienen als die Eltern: Die Selbstrekrutierung der ÄrztInnen und anderer Akademiker ist gerade in Deutschland wegen des effizient selektiv arbeitenden Bildungssystems besonders ausgeprägt. Dass die Eltern eines Arztes selber Ärzte waren oder zumindest Akademiker, ist daher nicht unwahrscheinlich. Dass diese Eltern in der Vergangenheit wegen der volkswirtschaftlich komfortablen Situation in den 60er und 70er Jahren besser verdient haben, ebenfalls. Das ist allerdings kein Grund, das Gesundheitsministerium anzujammern. Wohl aber die Kultusministerkonferenz - im Hinblick auf die Herstellung von Chancengleichheit.

Sich mehr leisten als der Angeber aus dem Abiturjahrgang: Es ist eine Binsenweisheit, dass man mehr Asche machen kann, wenn man an Gewinnen teilhat, statt auf Gehalt angewiesen zu sein. Man kann darüber jammern, dass das allgemein so ist, oder darüber, dass man persönlich nicht zu den Gewinnern gehört. Erwerb lohnt sich erst richtig, wenn man die Arbeit anderer in größerem Stil ausbeuten kann. Der Arztberuf war in der Vergangenheit dazu nicht wirklich gut geeignet. Auch die Ausbeutung von durchschnittlich 1,5 medizinischen Fachangestellten finanziert den Porsche nicht. Aber es gibt Hoffnung. Durch die Änderung des Vertragsarztrechts sind die Weichen zur verbesserten Durchkapitalisierung und Implantierung von Ausbeutungsstrukturen gestellt. Ärzte und Konzerne können nun auch im ambulanten Sektor andere Ärzte ordentlich ausbeuten. Es sei denn, man gehört nicht zu den ausbeutenden, sondern den ausgebeuteten ÄrztInnen. Für wenige wird es komfortabler, für viele wird es enger. Die ökonomische Position der Ärzte wird sich ausdifferenzieren und so der einheitliche Berufsstand der ÄrztInnen aufgeweicht. Die ärztlichen Kammer-Jammerorganisationen werden implodieren, die Jammerkraft wird um viele Kilo-Hartmänner abnehmen, damit der Jammer selbst und schließlich das erregte Mitleid.

Dann gibts ja noch das alte Argument mit der Verantwortung. Ärzte tragen unbestreitbar ein gehöriges Maß davon. Aber wie messen wir Verantwortung und wie rechnen wir sie um in Euro und Gebührenordnung? Vielleicht differenziert zwischen Gerontologen und Kinderärzten? Welche Verantwortung für das Leben anderer trägt ein Busfahrer? Der verdient übrigens durchschnittlich 21.000 Euro im Jahr. Brutto. Man könnte einwenden, dass laut einer Studie des Aktionsbündnisses Patientensicherheit 17.000 Menschen pro Jahr in Deutschland wegen ärztlicher Behandlungsfehler sterben, aber nur wenige durch übermüdete Busfahrer. Allerdings ist das Risiko, als Arzt zur Verantwortung gezogen zu werden, mit 2.000 juristisch nachgewiesenen Behandlungsfehlern pro Jahr in Deutschland relativ niedrig im Vergleich zu den geschätzt 175.000 Behandlungsfehlern pro Jahr allein bei Krankenhauspatienten. Das Risiko trägt in erster Linie also wohl doch der Patient und nicht der Arzt. Aber den Arzt für das Risiko, das der Patient trägt, zu bezahlen - das wäre nicht gut vermittelbar.

Vielleicht sollte man die Debatte eher im Hinblick auf Belastung führen. Da liegt die lebensverschleißende Belastung der Busfahrer aber auch deutlich über der von Ärzten: Männliche Busfahrer sterben 6 Jahre früher als Ärzte und selten schaffen sie es, bis zum 65. Lebensjahr Bus zu fahren. Geschweige denn bis zum 67.

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