Gerichtsposse im Neuwiedenthal-Prozess: Wenn Polizisten schweigen

Im Verfahren um die Massenschlägerei von Hamburg-Neuwiedenthal ist die Anklage in Beweisnot. Die polizeilichen Zeugen verweigern reihenweise die Aussage, weil gegen sie ermittelt wird. Im Gerichtssaal herrscht eine gereizte Atmosphäre.

Blaulicht mit Nebenwirkungen: Der Einsatz der Polizei bei der Massenschlägerei von Hamburg-Neuwiedenthal erscheint vor Gericht in einem fragwürdigen Licht. Bild: dpa

HAMBURG taz | Der 26. Juni 2010 ist ein lauer Sommerabend. In der Einkaufsstraße im Stadtteil Hamburg-Neuwiedenthal - die Gegend südlich der Elbe gilt als sozialer Brennpunkt - haben sich junge Leute mit Migrationshintergrund versammelt, reden und trinken Bier. Um kurz nach 21 Uhr geht Mateusz W. (27) rüber zum Denkmal und uriniert in ein Beet.

Das sieht die Besatzung des Funk-Streifenwagens "Peter 27/2", die zufällig nach einem abgebrochenen Einsatz vorbeifährt. Die Polizisten stellen W. zur Rede und verlangen seine Personalien. Als W. renitent reagiert, zückt der Beamte Günter J. seinen Teleskop-Schlagstock und schlägt auf Mateusz W. ein. Kollege Timor H. sichert die Einsatzstelle ab, ruft "Komm doch her, du Feigling!", als sich ein aufgebrachter Neuwiedenthaler nähert.

Wenig später eskaliert die Situation, es entladen sich aufgestaute Emotionen gegen die Polizei, von der sich die Anwohner schikaniert fühlen. Eine Massenschlägerei beginnt. Der Polizist Günter J. erleidet mehrere Schädelbrüche.

In den Medien sorgten die Ereignisse für einen Aufschrei: Eine "Horde von 30 jungen Leuten" - im Polizeifunk werden sie als "entartete Südländer" bezeichnet - hätten mit "äußerster Brutalität" Polizisten angegriffen, die einen "Wildpinkler" überprüfen wollten. "Dieser brutale hinterhältige Angriff macht mich fassungslos", erklärte Hamburgs Polizeipräsident Werner Jantosch am folgenden Tag.

Fünf Polizisten seien nach den Krawallen vom "Mob" verletzt worden, der 46-jährige Günter J. habe "lebensbedrohliche Schädelbrüche" in der Augenhöhle davongetragen. Amor S. und Avni A. werden als vermeintliche Täter ermittelt. Amor S., der sich gestellt hatte, muss mehrere Monate in Untersuchungshaft.

Seit Dezember verhandelt nun das Landgericht Hamburg gegen Amor S. und Avni A. wegen gefährlicher Körperverletzung - an mehr als zehn Verhandlungstagen. Es ist jedoch kein normaler Strafprozess. Die Polizisten legen ein merkwürdiges Aussageverhalten an den Tag, streckenweise hat die Verhandlung Züge einer Fernseh-Gerichtsshow - nur dass nicht die Zuschauer, Zeugen oder Angehörige im Gerichtssaal pöbeln.

Es sind vielmehr die Prozessbeteiligten, die sich lautstark ins Wort fallen. "Stellen sie mal den Herrn da drüben ab", giftet Nebenklageanwalt Andreas Karow den renommierten Verteidiger Uwe Maeffert an. "Wollen sie sich zum Kasper machen", faucht Staatsanwalt Lars Mahnke, als Maeffert protestiert, weil er sein Fragerecht "torpediert" sieht und Karows Angriffe als "Schmähungen" empfindet. "Ich kann das nicht mehr ertragen", sagt Maeffert und droht mehrfach, sein Mandat niederzulegen.

Kaum eine Frage von Maeffert an die Polizeizeugen, ohne dass Nebenklageanwalt Karow diese nicht schon nach ein paar Worten beanstandet, dem Verteidiger "Zermürbung" und Irreführung vorwirft. "Es ist äußerst störend, wenn sie in dieser Art und Weise Fragen beanstanden", versucht die Vorsitzende Richterin Birgit Woitas die Verhandlungsführung im Griff zu behalten. "Ich bitte sie dingend, dies zu unterlassen", sagt sie - und wird dafür sofort selbst angefeindet.

Die Gereiztheit der Nebenkläger kommt nicht von ungefähr, denn die Anklage ist in Beweisnot geraten. Es gibt nämlich nur den Zivilfahnder Jörg Sch., der angibt, an jenem Abend gesehen zu haben, wie Amor S. den Polizisten Günter J. mit voller Wucht gegen die Stirn getreten habe, während Avni A. zeitgleich mit einem "Hechtsprung" den Polizisten Oliver P. in den Rücken getreten habe, so dass bei beiden "die Köpfe wegfliegen".

Jörg Sch. hat zwar diese Darstellung im Verfahren kurz wiederholt, danach aber auf Nachfragen vom umfassenden Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, da gegen ihn selbst ein Verfahren wegen Körperverletzung anhängig ist. Er soll den festgenommenen "Wildpinkler" Mateusz W. einen Faustschlag im Peterwagen versetzt haben.

Der Aufgriff von Mateusz W. war der Anlass für die Massenschlägerei, danach kam es zu dem Festnahmeversuch von Amor S. Bruder Ahmed, wobei der Polizist Günter J. die Schädelbrüche erlitten hat. Günter J. selbst registrierte nur einen "dumpfen Schlag", hingegen glaubt er gesehen zu haben, wie sein Kollege Roland A. durch einen Fußtritt am Kopf getroffen worden ist, woran sich dieser wiederum nicht erinnern kann.

Günter J. hat inzwischen mitgeteilt, dass auch er umfassend die Aussage verweigert - wie sein Peterwagen-Kollege Timor H., was mittlerweile dazu geführt hat, dass der Haftbefehl gegen Amor S. vom Gericht ausgesetzt wurde.

Der Polizist Roland A. weiß nur zu berichten, dass er bei dem Versuch, Amors Bruder Ahmed von einem Geländer zu ziehen, einen Schlag auf die Nase bekommen hat, wodurch er einen kurzen Knock-out hatte. Er entlastet aber Amor S., der - wie auch ein Videofilm belegt - während des "aufruhrartigen Tumults" verbal und durch Armbewegungen "beschwichtigend" auf die Menge eingewirkt habe.

Auch von einem "Hechtsprung" des anderen Angeklagten, des Zwei-Zentner-Mannes Avni A., weiß zumindest das vorgebliche Opfer, Dienstgruppenleiter Oliver P., nichts zu berichten. Der Polizist, der damals beim Festnahmeversuch auf Ahmed S. kniete, sagt vor Gericht, er könne sich nur an eine leichte "äußere Einwirkung" erinnern, wodurch er nach vorne gefallen sei und Ahmed S. loslassen musste, der dann flüchtete. Trotz Rückenschmerzen und einer Schürfwunde hatte Oliver P. keinen Arzt konsultiert.

Falls der Angriff auf Oliver P. Avni A. zuzurechnen sei, könne es sich um nicht mehr als eine "Körperverletzung im untersten Bereich" handeln, konstatiert dessen Verteidiger Udo Jacob. Avni A. selbst gibt an, bei der Schlägerei nicht dabei gewesen zu sein.

Keiner der an der Festnahmeaktion von Ahmed S. beteiligten Polizisten hat den Kronzeugen, Zivilfahnder Jörg Sch., am Tatort gesehen. Maeffert hegt "erhebliche Zweifel" und hat auch Hinweise darauf, dass Jörg Sch. den Vorfall gar nicht gesehen haben kann, weil er woanders eine flüchtige Person verfolgte.

"Angaben können ja nicht hinterfragt werden, da die Beamten die Aussage verweigern", moniert Maeffert. Allerdings kennt Zivilfahnder Sch. den mehrfach vorbestraften Amor S. seit Jahren. Er hält ihn für einen gefährlichen Intensivtäter und hat mal zu ihm gesagt: "Wir sind die Guten und ihr seid die Bösen - der Sumpf der Straße."

Merkwürdig ist auch, dass, falls Amor S. an dem Abend von dem Zivilfahnder erkannt worden ist, nicht gleich nach dem Verdächtigen gefahndet wurde, sondern erst tags darauf, als sich der volle Umfang des polizeilichen Schlamassels von Neuwiedenthal abzeichnete.

Dienstgruppenleiter Oliver P. gibt zwar nun in der Gerichtsverhandlung an, dass Jörg Sch. ihm noch am Tatort Amor S. und Avni A. als Schläger genannt habe - doch dieser Umstand taucht in polizeilichen Vernehmungen niemals auf. Das macht selbst Staatsanwalt Mahnke stutzig: "Warum taucht die Identifizierung nicht auf?", fragt er nachdenklich. "Und warum taucht das in den Funkprotokollen nirgends auf?"

Mahnke hat beantragt, Jörg Sch. erneut zu vernehmen und zu einer umfassenden Aussage zu bewegen - notfalls durch Zwangsmittel. Andernfalls bricht die Anklage wohl in sich zusammen. Verteidiger Maeffert beruft sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Danach bestehe für Beschuldigungen, die durch Teilaussagen nicht hinterfragt werden könnten, ein "Verwertungsverbot".

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