Debatte Grüne: Elektroflitzer für Arme

Die Grünen interessieren sich eher für den Atomausstieg als für soziale Fragen. Das kann Linie werden, wenn sie an die Macht kommen. Pech für Hartz-IV-Empfänger.

Fahrrad fahren – ökologische Mobilität. Doch wird es die von den Grünen angepriesenen E-Autos auch für Arme geben? Bild: Ginny | CC-BY-SA

Am interessanten ist, wozu Winfried Kretschmann nichts sagt. Der neue starke Mann der Grünen wird in der Partei gefeiert wie ein schwäbischer Messias, und er spricht gerne und ausführlich über ökologisch orientiertes Wirtschaften, über Elektromobilität und Klimaschutz, über Bildung als die "große soziale Frage" unserer Zeit. Ein Sinnzusammenhang fehlt jedoch mit schöner Regelmäßigkeit: Vermögenskonzentration in Deutschland, Armut, und, daraus abgeleitet, eine Idee von Verteilungsgerechtigkeit.

Kretschmanns Schweigen ist mehr als die taktische Fokussierung des Regierungschefs eines reichen Bundeslandes. Es ist ein Symptom für eine Machtverschiebung bei den Grünen und die programmatische Schwäche, die aus ihr folgt. Angesichts des historischen Erfolgs in Baden-Württemberg und der Hoffnung aufs Regieren im Bund sind die Kräfte in der Offensive, die die Partei als Kraft der Mitte positionieren wollen, die offensiv um WählerInnen aus dem konservativen Lager werben, und die dabei die Verteilungsfrage ignorieren. In ihrem Kalkül ist diese kontraproduktiv beim Kampf ums Bürgertum der Mitte.

Kretschmann etwa argumentiert aus seiner ökolibertären Tradition heraus, einer Strömung innerhalb der Grünen, die in den Achtzigern gegen die Sozialdemokratisierung der Grünen und die "Verstaatlichung des Sozialen" wetterte. Umverteilung zugunsten Unterprivilegierter funktioniert jedoch nur über den Staat. Kretschmanns Fokus - und die bewusst kalkulierte Lücke - ist insofern konsequent. Neu ist allerdings die Wirkmächtigkeit dieser Linie, zumal sie die programmatische Entwicklung der Partei in den letzten Jahren konterkariert. Während ihrer Regierungszeit in der rot-grünen Koalition agierten die Grünen nach dem Motto "pick your battles", als ginge sie Sozialpolitik nichts an. Sie scheuten sich weder, Hartz mitzutragen, womit sie Zwang in die Arbeitslosenhilfe implementierten und Leistungen kürzten. Noch stieß ihnen die Senkung des Spitzensteuersatzes auf, womit sie Reiche entlasteten.

Von unten nach oben gerichtete Verteilungspolitik

Die Grünen verantworteten Weichenstellungen einer von unten nach oben gerichteten Verteilungspolitik. Dies lässt sich im Nachhinein mit einer Fixierung auf die eigene Mittelschichtsklientel erklären. Und mit einem traditionellen Misstrauen gegenüber Arbeiterforderungen, weil diese angeblich mit einem exzessiven Wachstumsbegriff einhergingen.

Allerdings hat die Partei diese Borniertheit als Verirrung erkannt und korrigiert, die Basis und der linke Parteiflügel schufen eine neue Verortung bei der Verteilungsgerechtigkeit. Die Grünen sind für Mindestlöhne, für eine befristete Vermögensabgabe, für eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 45 Prozent und für höhere Steuern auf Kapitaleinkünfte. Zumindest auf dem Papier. Entscheidend ist dabei nicht, dass diese Korrekturen manchmal halbherzig wirken - unter Helmut Kohl lag der Spitzensteuersatz noch bei 53 Prozent. Entscheidend ist, was von dieser Verortung bleibt, wenn die Grünen an die Macht kommen.

In dem Profil, dass das Führungsquartett von der Partei zeichnet, spielt sie keine Rolle. Allenfalls vor Parteitagen werden Papiere zum Spitzensteuersatz unterzeichnet, um gute Wahlergebnisse einzufahren. Ansonsten profilieren sich die ChefInnen lieber über den Atomausstieg, und genießen Auftritte bei der Industrie- und Handelskammer, von der sie plötzlich als neue Player akzeptiert werden. Und zu Armut? Da werkeln engagierte Fachpolitiker in der Fraktion vor sich hin.

Angst vorm Bildungsbürger

Damit ihr Schweigen zur Verteilungsfrage nicht zu laut wird, erklären Grüne wie Kretschmann bei jeder Gelegenheit, dass Bildung der entscheidende Schlüssel zur Teilhabe sei. Wer wollte das anzweifeln? Doch ist es zum einen bemerkenswert, wie kleinlaut die Grünen beim Ziel des gemeinsamen längeren Lernens nach dem Scheitern des schwarz-grünen Experiments in Hamburg geworden sind. Dies zeigt sich am jüngst beschlossenen "Schulkonsens" in Nordrhein-Westfalen. Und in Baden-Württemberg setzen sie lieber auf sanftes Bitten als auf klare Ansagen, um die Bildungsbürger nicht zu verprellen.

Vor allem aber ist es zu kurz gedacht, ausschließlich Bildung in der neuen, ökosozialen Welt als Präjudiz für gesellschaftlichen Aufstieg herauszustellen. Denn selbst das gerechteste Bildungssystem wiegt die Million im Kinderwagen nicht auf. Kinder reicher Eltern werden immer Startvorteile haben, wenn Habitus oder Klassenzugehörigkeit vor Qualifikation gehen.

Keine Partizipation

Ferner bleiben die Grünen die Antwort auf eine hochinteressante Frage schuldig, die unmittelbar mit dem Green New Deal zusammenhängt. Nämlich die, wie Niedrigverdiener in frisch energetisch gedämmten Häusern ihre steigenden Mieten zahlen sollen, oder wie die Mobilität von Hartz-IV-Empfängern aussieht, wenn Gutverdiener in ihren Elektroflitzer steigen. Nun ist der Vorwurf einiger Linkspartei-Politiker, die Grünen führten vor allem Luxusdiskurse für Latte-macchiato-Linke, denunziatorisch, denn sie haben dazu durchaus Ideen.

Doch die substanzielle Klärung, wie sie auch arme Menschen beim ökosozialen Umbau mitnehmen will, steht der Partei noch bevor. Eine Ökorevolution, die die Endlichkeit der Ressourcen entschärfen will, muss die Partizipation aller voraussetzen. Und eine solche gesamtgesellschaftliche Analyse erwarten Grünen-WählerInnen. Ein Green New Deal, dessen Jobs Akademiker bekommen und dessen Produkte ebenjene kaufen, reicht nicht.

Nun, da sich die Grünen anschicken, ab 2013 wieder zu regieren, werden sich solch innere Widersprüche in reale Politik übersetzen. Dann beschneidet die Schuldenbremse alle Staatsausgaben, dann fallen noch gar nicht absehbare Kosten für die Europa-Krise an, dann wird sich zeigen, dass sich nicht das ganze grüne Wünsch-dir-was finanzieren lässt. Jürgen Trittin wies im November 2010 auf "schmerzhafte Prioritätenentscheidungen" hin, die anstünden. Nicht ohne zu betonen, "höchste Priorität" hätten Investitionen in den Green New Deal. Damit wäre klar, für wen es im Zweifel schmerzhaft wird, wenn die Grünen wieder regieren.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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