Neuübersetzung "Große Erwartungen": Der Aufstieg, der zum Abstieg wird

Schönes Produkt zu Charles Dickens 200. Geburtstag: Melanie Walz gelungene Neuübersetzung seines reichsten Romans. Es ist Zeit, "Große Erwartungen" zur Hand zu nehmen.

"Je mehr Leiden, desto mehr Liebe": Charles Dickens' Familien-Foto-Schrein in seinem Geburtshaus in Portsmouth. Bild: dapd

Dieses Buch macht zufrieden. Und gütig. Nach innen und nach außen. Wenigstens für die Zeit der Lektüre, wenigstens ein paar Tage, ein paar Wochen lang. Charles Dickens "Große Erwartungen" ist so reich, dass ein anderer Text eines anderen Rezensenten hier vielleicht begonnen hätte damit, dass es ein Roman über unsere Zeit ist, über eine Welt, in der alle Superstar sein wollen, und in der der Bundespräsident zu großzügige Freunde hat.

Wieder ein anderer hätte vielleicht die Sozialkritik hervorgehoben. Das Elend der Armut, die Verbrechen an Kindern und dass jeder Verbrecher wiederum einmal Kind war und Produkt dieser Kindheit. Ein eher desillusionierter Kritiker mag das Buch als Abrechnung mit der romantischen Liebe sehen. Auf jeden Fall ist es ein Fest für jeden, der Ironie genießen kann.

Und es ist Zeit, das Buch zur Hand zu nehmen, gerade heute, am 200. Geburtstag des Autors. Bei Hanser liegt "Große Erwartungen", 1860 als wöchentlicher Fortsetzungsroman erstmals erschienen, in einer wunderbaren Neuübersetzung von Melanie Walz vor. Ihr gelingt es, die Eleganz und den Witz der Vorlage beizubehalten und sie zugleich frisch klingen zu lassen. Der Anhang bietet Interessantes zu Dickens Biografie wie zur Rezeptions- und Editionsgeschichte des Romans.

Begegnen Sie also Pip, dem Helden, den Dickens hier selbst seine Geschichte erzählen lässt, in einer berührenden Mischung aus Naivität und Selbsterkenntnis. Pip ist Waise, er lebt bei seiner Schwester und deren Mann, dem Schmied Joe. Die Schwester lässt den Kleinen Tag für Tag spüren, dass sie kein guter Mensch ist. Joe, ein zu guter Mensch, tut alles, was er kann, um ihn zu schützen. Pip will Schmied werden wie Joe. Mehr eigentlich nicht. Bis er mehr kennenlernt. Im Haus der reichen Miss Havisham, die in dunklen Zimmern in einem an ihrem Leib zerfallenden Hochzeitskleid neben der von Ungeziefer befallenen Hochzeitstorte um eine Liebe trauert, die nie eine war.

Wer nur doll genug will

Ihre Adoptivtochter Estella, schön und kalt, hält Pip einen Spiegel vor, in dem er sich grobschlächtig und gewöhnlich sieht. Er beginnt, sich zu schämen für Joe, für die Schmiede, für sich selbst. Und, kurz vorangeeilt, er wird dem bald entkommen - und es bereuen. Ein Gönner, der vorerst unbenannt bleibt, stattet ihn aus mit Geld, Komfort, Bildung. Mit großen Erwartungen eben. Er verlässt das Dorf, geht nach London, verprasst Geld, versucht, ein Gentleman zu werden, damit Estella seine Liebe erwidert.

Die großen Erwartungen, Aussichten, Hoffnungen sind vor allem auch große Ansprüche, die in nichts begründet scheinen als in Willkür. Warum gerade Pip? Weil er es will? Wenn man nur doll genug will, dann … - es ist das Mantra all der Castingshows, die Zehntausende anlocken mit dem Versprechen, heraus aus dem Gewöhnlichen und zu Ruhm zu kommen. Und plötzlich will jeder Star werden, Topmodel, Supertalent. Wie fragil und wie leer all das ist, davon erzählt Dickens. Auch davon, dass Geld immer etwas fordert, eine Quittung, nicht wahr, Herr Präsident?

Fluch des gutes Herzens

Für Pip wird sein Geld zum Fluch. Und sein gutes Herz auch. Der entflohene Häftling, dem er als Kind half, taucht wieder auf, mit ihm und Pips Vormund, einem Anwalt all derer, die es offenbar nicht genug gewollt haben mit dem Geld und dem Ruhm, wenn man dieser These folgen mag, mit ihnen nun jedenfalls taucht der junge Mann ein in die Welt der Verbrecher, der Gerichtsverhandlungen, Gefängnisse, der Ungerechtigkeit. Vieles kann man an diesen Schilderungen ablesen, das heute noch gilt, das Taten nachvollziehbar, Täter menschlich macht.

Und die Liebe! Für Miss Havisham ist das "blinde Hingabe, bedingungslose Selbsterniedrigung, völlige Unterwerfung". Je mehr Leiden, desto mehr Liebe. Pip weiß um all die Fehler Estellas und doch steht sie für die Scham, gewöhnlich zu sein, und damit für das, was "das innerste meines Lebens ausmachte". Das große Gefühl als fixe Idee, als zutiefst selbstbezogene Inszenierung - auch hier lässt sich viel erkennen bei der Lektüre.

Das Leben zwingt Estella wie Pip, die beide auf unterschiedliche Art durch ihre Gönner geformt, ja im Innern erschaffen wurden, sich zu befreien. Pips Lektion besteht etwa aus dieser Erkenntnis: "So lassen wir uns für gewöhnlich ein Leben lang die schlimmsten Schwächen und Schäbigkeiten um derjenigen willen zuschulden kommen, die wir am geringsten achten."

Seiner Reue, vor allem Joe so im Stich gelassen zu haben, steht das Handeln des Schmieds gegenüber: stets treu und redlich, von großer Würde und so bestürzender Zufriedenheit ist er, dass von dieser Güte etwas auf Dickens abfärbt, der in seinem Roman jedem sein Recht widerfahren lässt. Und auch auf den Leser.

Den lehren die Figuren in "Große Erwartungen", besser als jedes Ratgeberbuch es könnte: Zufriedenheit. "An vielen Abenden, wenn ich allein ins Feuer blickte, dachte ich mir: letzten Endes komme doch kein Feuer dem Feuer in der Schmiede und dem Küchenfeuer zu Hause gleich." Es ist nicht der Schlusssatz des Buches, wohl aber dieses Textes. Und wer das spießig findet, der hat wohl andere Erwartungen.

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