Sexuelle Gewalt in Indien: Die Brigade der Tapferen

Die Mädchen der „Roten Brigade“ einer indischen Schule tragen rot und signalisieren damit: Rühr mich nicht an! „Wir sind nirgendwo sicher“, sagt Afreen.

Über den Dächern von Lucknow: Die „Rote Brigade“ stärkt das Selbstbewusstsein der Schülerinnen. Bild: Georg Blume

LUCKNOW taz | Usha Vishwakarma schwingt sich von der Autorikscha auf die Straße und drückt dem Fahrer schnell einen Zehnrupienschein in die Hand. Bloß weg hier! Usha – 25, ledig, Lehrerin – hasst Rikschas. Eben noch saß sie eng gedrängt mit vier Männern auf der Rückbank. Ihr Knie berührte ein Männerknie, das war unvermeidbar.

Eher vermeidbar wären die Männerblicke, die bei der Fahrt auf ihr ruhten. Große braune Augen, ein langer schwarzer Zopf – Usha ist eine Frau, die Blicke auf sich zieht. Umso unauffälliger kleidet sie sich: Jeans, darüber ein unförmiger brauner Mantel. Für Usha sind das Schutzmaßnahmen. Gerade auch für die Rikscha.

Schon ist sie untergetaucht in den Gassen von Lucknow, der überquellenden Millionenmetropole im Herzen von Uttar Pradesh. Uttar Pradesh ist Indiens größter Bundesstaat: ein Armenhaus mit mehr Einwohnern als Brasilien oder Indonesien. Lucknow ist die Hauptstadt. Hier lebt Usha seit zehn Jahren in dem, wie sie selbst sagt, „gefährlichsten Viertel“ der Stadt. Mediayon gilt als Treffpunkt der Tagelöhner, es ist ein Viertel der Zugezogenen vom Land, die nicht selten ihre Familien zurücklassen, also ein urbanes Männerreich.

Usha eilt voraus. Sie kennt jede Hausecke, jeden Samosa-Stand, jeden Trampelpfad. Doch bis zu ihrer Schule ist es ein weiter Weg. Kein Asphalt, keine Pflastersteine, nur Erde und Sand. Der Weg führt vorbei an Gemüseständen, Tischlereien und Malerwerkstätten. Ihr begegnen Männer, Kühe, Wasserbüffel – und gelegentlich eine Frau, gehüllt in einen Sari.

Schnelle Schritte

Usha grüßt niemanden, ihr Blick haftet am Boden, ihre Schritte werden immer schneller. Sie überquert einen freien Sandplatz, auf dem ein paar Jungen Kricket spielen. Dann steht sie vor einem Mangobaum. „Hier ist die Schule“, sagt Usha. Ein Dutzend Mädchen in roten Hemden quellen aus einer Haustür und kommen auf sie zugelaufen.

Die Rothemden sind Lucknows „Rote Brigade“, und Usha ist ihre Führerin. Nicht dass sie wüssten, wer einmal die Roten Brigaden in Italien oder die Roten Garden in China waren. Ihren Namen haben sie auf Facebook entdeckt. Doch in ganz Indien machte ihre Geschichte dank eines Berichts im Wochenmagazin Outlook die Runde, allerdings besuchte noch nie ein Journalist die Gruppe.

Umso aufgeregter sind die Mädchen jetzt. Sie sind zwischen 14 und 19 Jahre alt, die Jüngeren besuchen noch Ushas Schule, die Älteren helfen ihr beim Unterrichten. Um die 150 Schülerinnen und Schüler kommen in ihre Nachbarschaftsschule, die kein Schulgeld kostet und, anders als die öffentlichen Schulen, funktioniert. Die Rote Brigade ist Teil der Schule, hierzulande würde man sagen: eine AG. Die Teilnehmerinnen wollen wissen, wo Deutschland liegt. Bald stellen sie tausend Fragen. Schüchtern sind sie nicht.

Die Brigadechefin muss erst mal ein Missverständnis aus der Welt räumen. Weder sie noch eines der 15 Mitglieder ihrer Brigade seien Vergewaltigungsopfer. Nur würde den meisten von ihnen die sexuelle Gewalt im Alltag ständig begegnen. „Gerade um jedem Vergewaltigungsversuch zuvorzukommen, haben wir unsere Gruppe gegründet und tragen die roten Hemden“, sagt Usha. Die Idee für die Brigade kam der Lehrerin vor zwei Jahren, als sie dem Vergewaltigungsversuch eines Kollegen knapp entkam. „Nur meine Jeans hat mich gerettet“, erzählt sie den Mädchen und sofort entbrennt heftiges Geschrei.

Usha bittet um Veröffentlichung ihrer E-Mail-Adresse: redbrigade.lucknow@gmail.com

Die einen, die schon Jeans tragen dürfen, freuen sich. Die anderen im Sari schimpfen auf ihre Mütter und Väter, die ihnen nur die traditionelle Kleidung erlauben. Sie sagen, die könne jeder Mann leicht zerreißen. Lakshmi, die schon älter ist, mahnt: „Wechselt nicht eure Kleider! Ändert eure Gedanken.“ Ein Mädchen stimmt zu: „Nach jeder Vergewaltigung fragt man, was für Kleider die Frau trug. Das ist unfair.“

Die Ehre der Familie

Die Gruppe hat sich auf dem sonnenbeschienenen Dach von Ushas Familienhaus versammelt. Dort wohnt Usha gemeinsam mit den Eltern, zwei Schwestern, die Mitglied ihrer Brigade sind, und einem kleinen Bruder. Der Mangobaum, unter dem an Schultagen der Unterricht im Freien stattfindet, steht rechts vom Haus. Gerade sind Winterferien. Also haben die Rothemden viel Zeit. Nach einer Weile beginnen sie von sich zu erzählen.

Afreen, die älteste Schwester von Usha, erlebte den Vergewaltigungsversuch des Cousins eines Nachbarn, der zum Studieren nach Lucknow gekommen war. Sie wollte ihn bei der Polizei anzeigen. Doch ihre Mutter riet ab. Man könne mit der Anzeige seine ganze Karriere zerstören. „Wenn du deiner Mutter etwas sagst, wird sie sich abwenden und sagen: Treib dich mit diesem Mann nicht mehr herum. Ihr geht es nur um die Ehre der Familie“, schlussfolgert Lakshmi aus Afreens Erzählung.

Bei Neelam, einem 15-jährigen Brigademitglied, war eher der Vater das Problem. Er empfing regelmäßig zwei Freunde aus der Nachbarschaft. Bei ihren Besuchen flirteten die zwei mit ihr und einer Cusine aufdringlich, später versuchten sie sie zu streicheln. Neelam wehrte sich, doch ihre Cousine wurde Opfer sexueller Belästigung. Als Neelam den Eltern berichtete, schritt die Mutter ein und beklagte sich bei den Nachbarfamilien, doch der Vater stellte sich taub und empfing weiter seine Freunde.

Die sexuelle Gewalt, so sagen die Mädchen einstimmig, beginne immer in der Familie. Die Jungen genössen mehr Freiheiten, von ihnen würde stets erwartet, ihren Körper zu verstecken und im Zweifel nicht zu klagen. Wenn dann was passiere, wenn Freunde oder Verwandte sie belästigten, bliebe das in den vier Wänden der Familie. „Wir sind nirgendwo sicher“, sagt Afreen. „Wenn wir zu Hause nicht sicher sind, wie können wir uns dann auf der Straße sicher fühlen?“

Betätscheln nach dem Unterricht

So gehen die Geschichten weiter. Puja musste vor ihrem Schuldirektor fliehen, weil dieser sie nicht wie andere mit dem Stock bestrafte, sondern nach der Missetat zu sich ins Büro holte und betätschelte. Hajra musste sich gegen die Annäherungsversuche des benachbarten hinduistischen Priesters wehren, der sie in einem Hinterzimmer allein antraf, als sie seiner Frau beim Waschen der Saris half.

Ihre Direktheit und Ehrlichkeit fehlt vielen im Land: Usha Vishwakarma mit einem Plakat gegen Vergewaltigung. Bild: Georg Blume

Vor all diesen Gefahren aber gab es für die Mädchen bisher keinen Schutz: Weder Eltern noch Lehrer, weder Priester noch Polizei gestanden zu, dass man ihnen Gewalt antun wollte. Deshalb ist die Rote Brigade für sie heute so wichtig. Bei Usha fühlen sie sich sicher. Ihre roten Hemden signalisieren zudem: Rühr mich nicht an! So viel, glaubt Usha, haben inzwischen sogar die Tagelöhner von Mediayon verstanden.

Kein Wunder also, wenn die Gruppe in den letzten Wochen durch die indischen Medien ging. Nirgendwo in Indien schien eine Frauengruppe eine bessere Antwort auf die schreckliche Vergewaltigungstat an einer Medizinstudentin in Delhi parat zu haben, die zuletzt so viel Empörung und Aufruhr zu erregen schien.

Doch Usha und ihre Mädchen machen sich keine Illusionen: Lucknow sei nicht Delhi, wo viele protestiert hätten. In ihrer Umgebung seien fast alle der Meinung, dass die Medizinstudentin ihr Schicksal selbst verschuldet habe. „Alle glauben, sie hätte aufreizende Kleider angehabt. Wir sind eine kleine Minderheit“, sagt Lakshmi. Eben nur eine Brigade der Tapferen.

Thema Abtreibung

An diesem Tag nutzen die Mädchen die Ferien, um ein Straßentheaterstück zu proben. Mit ihrer Gruppe haben sie bereits einen Theaterpreis in Kalkutta gewonnen. Damals glaubten die Nachbarn, Usha würde die Mädchen in Kalkutta ans Bordell verkaufen. Doch alle kamen wieder. Jetzt üben sie ein Stück, in dem eine angehende Mutter zur Abtreibung ihres Mädchens gezwungen wird, weil der Vater einen Sohn haben will.

Auf diese Art der geschlechtsspezifischen Abtreibung, sagen Forscher, hat Indien in den letzten 20 Jahren schon 12 Millionen Frauen verloren. Lakshmi spielt die Mutter: „Bin ich nur ein Objekt, ein Spielzeug in deinen Händen?“, fragt sie. Afreen, die den Vater spielt, antwortet: „Warum strickst du einen rosa Pullover, du Dumme! Mach dich fürs Krankenhaus fertig.“ Dann singt der ganze Chor: „Ist dies ein freies Land? In dem eine Frau kein Mädchen haben kann? In dem die Geburt eines Mädchens ein Unglück ist?“

Vielleicht gewinnt die Rote Brigade mit diesem Stück erneut einen Preis. Sie sind noch so jung, sie haben nur eine mutige Lehrerin. Aber sie stellen sich den drängendsten Problemen ihrer Nation mit einer Direktheit und Ehrlichkeit, die dem kulturell so stolzen Land anderswo fehlt.

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