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Kommentar ErdoganDie Paranoia des Ministerpräsidenten

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Polizei hat das Istanbuler Stadtzentrum zur Hochsicherheitszone erklärt. Möglichst viele europäische PolitikerInnen sollten jetzt in die Türkei reisen.

Erdogan fühlt sich von den friedlichen Demonstranten bedroht Bild: ap

I stanbul, die derzeit angesagteste Stadt Europas, ist zu einem Schlachtfeld geworden. Die Polizei hat das Stadtzentrum zur Hochsicherheitszone erklärt, eine No-go-Area für die Bewohner der Stadt und ihre Besucher.

Die Brücke über den Bosporus ist von Polizei- und Gendarmerieeinheiten des Militärs besetzt, auf dem äußeren Autobahnring rollt Verstärkung aus dem Osten des Landes an. Eine Situation, die noch vor wenigen Tagen kaum vorstellbar war. Der Grund dafür ist der Machtanspruch von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner engsten Umgebung.

Denn der bislang brutalste Polizeieinsatz nach drei Wochen Gezi-Park-Besetzung wäre selbst aus Sicht einer „normalen“ Regierung gar nicht nötig gewesen. Bevor die Polizei am Samstagabend anrückte, war die Stimmung im Park entspannt, man wollte noch ein wenig feiern und sich dann auf einen Abmarsch vorbereiten.

Zwar hatten die Sprecher der Protestbewegung nach stundenlangen Debatten im Anschluss an das Gespräch einiger ihrer Vertreter mit Erdogan die geforderte „sofortige“ Räumung des Parks abgelehnt, doch es war klar, dass es bei Ausbleiben von Provokationen in wenigen Tagen auf eine symbolische Restbesetzung des Parks hinauslaufen würde.

Nicht „normal“

taz
Jürgen Gottschlich

ist Türkei-Korrespondent der taz.

Doch die Regierung Erdogan verhält sich zurzeit nicht mehr wie eine „normale“ Regierung. Erdogan schart seine Anhänger um sich, zuerst am Samstag in Ankara und dann am Sonntag in Istanbul, um „seine Türkei“ gegen die „andere Türkei“ ins Feld zu führen. Die Räumung des Gezi-Parks in der Samstagnacht war eine Demonstration der Stärke für sein Lager.

Bevor die Kundgebung seiner Partei am Sonntagabend stattfand, wollte sich Erdogan die Rolle des Triumphators sichern. Der Ministerpräsident hat aufgehört, ein Regierungschef für die gesamte Bevölkerung sein zu wollen. Seit die Proteste begannen und eine Dimension annahmen, mit der niemand gerechnet hatte, glauben Erdogan und seine Leute, „dunkle Mächte“ würden bei den Demonstrationen Regie führen.

So absurd es klingt: Der Mann, der mit der größten Machtfülle ausgestattet ist, die ein türkischer Premier je seit dem Zweiten Weltkrieg innehat, fühlt sich von friedlichen Demonstranten bedroht, die nichts anderes wollen, als respektiert und gehört zu werden.

Es wird höchste Zeit, zu versuchen, Erdogan aus seiner Paranoia herauszuholen. Man kann nur hoffen, dass besonnenere Kräfte innerhalb seiner Partei und Regierung, aber auch von außerhalb, dies versuchen. Das Schlechteste wäre, jetzt die Brücken zur Türkei oder auch zur türkischen Regierung abzubrechen. Es ist richtig, wenn das Europaparlament die türkische Regierung für die brutale Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten kritisiert. Aber genauso richtig ist es, jetzt das Gespräch mit den Verantwortlichen in Ankara zu suchen.

Nicht isolieren

Europa, die USA, der Westen insgesamt sollten nicht darauf setzen, Erdogan zu isolieren. Wenn die Demonstrationen der vergangenen Wochen eines zeigen, dann doch, dass es eine breite demokratische Bewegung gibt, der man keinen größeren Dienst erweisen kann, als endlich die Blockaden bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzuheben und alles dafür zu tun, der weiteren Entwicklung in der Türkei einen europäischen Rahmen zu geben. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Möglichst viele europäische PolitikerInnen und Vertreter der Zivilgesellschaft sollten jetzt in die Türkei reisen, um die Protestierenden zu unterstützen, aber auch um mit Erdogan und seiner Regierung zu reden. Europa muss der Türkei das Gefühl geben, dazuzugehören. Nur so kann auch Erdogan in einen europäischen Wertekanon eingebunden werden.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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8 Kommentare

 / 
  • AO
    Aleksandr Orlov

    "So ein blödsinn, ohne dieser Mann wäre die Türkei in eine Militär Diktatur"

    Das ist Blödsinn.

    Erdogan hat das Militär entmachtet, das stimmt.

    Dabei war in der Türkei das Militär der Garant für die Fortführuing des Kurses von Kemal Atatürk.

    Das ist sicher in den Augen rückwärtsgewandter Religiöser eine Diktatur, weil das Militär über die streng laizistische Ausrichtung des türkischen Staates gewacht hat.

     

    Wenn man das kemalistische Kopftuchverbot in öffentlichen Räumen als Diktatur verstanden hat, dann ist Erdogan ein Befreier.

    Wenn man allerdings kemalistisch orientiert in einem modernen Land leben möchte, ist Erdogan der Diktator.

     

    Diese beiden Pole prallen da gerade aufeinander.

     

    Erdogan nutzt nur die ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel, es geht genau so zu wie in Mappus' Stuttgarter Schlosspark oder neulich vor der EZB in Frankfurt.

  • Z
    ZurückindieZukunft

    @abey

    Ihre Argumente mögen ja zutreffen aber irgendwann schlägt jedes System ins negative durch. Das sind systemimmanente Konstanten!!

    Erst recht dann, wenn sich bestimmte Strukturen bildeten z.B. der Staat im Staat.

    Bestes Beispiel Ungarn, erst Reformen um nun das Mittelalter umzusetzen, Zurück in die Zukunft.

    Wann ist die nächste Wahl in der Türkei?

    Könnte sein vorgehen durch Wahlpropaganda erklärt werden?

    Wiki: "Das Parlament kann vor Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode Neuwahlen beschließen. Die letzten fünf Wahlen (1991, 1995, 1999, 2002 und 2007) fanden vorzeitig statt."

    Geht es nur darum das Erdogan und seine Clique weiterhin an der Macht bleibt, eine Wahl verhindern will?

  • H
    Hafize

    Die Türkei hat jahrzehntelang nicht die Anforderungen für den EU-Beitritt erfüllt und sie weigert sich bis heute, nur das Basisniveau überhaupt zu erreichen. Ein solches Land hat jetzt mehr als Schelte verdient. Schon das desolate Schweigen Europas und der NATO 1980 hat eine ganze Lawine von Fehlentwicklungen ausgelöst, die bis heute nachwirken.

     

    Und worum ging es? Es ging um einen Park, es geht um eine De-Ästhetisierung eines alten Landes. Erdogans Unternehmer und Anhänger planieren die Türkei mit Beton und Billigbauten zu. Istanbul ist heute sowieso die einzige große Stadt mit einem hohen Bestand historischen, schönen Bauwerken. Und hier leben die Menschen irgendwo zwischen Byzanz, Islam, Republik, Osmanischem Reich und Liberalität. Bislang hatte keine Regierung versucht, diesen Mix aufzulösen, Erdogan will aber auch diese 'Kultur' zerstören und mit Islam/Shopping/Wohnungsspekulationen ersetzen. Und weil das seine pan-türkische Strategie ist, kann er hier Widerspruch nicht aushalten. Sonst stehen die Bagger im ganzen Land plötzlich still, das Wachstum geht nach Unten und die Menschen sehen den Dreck, der unter dieser eintönigen Entwicklungsstrategie steckt.

     

    Schön-Trinken kann und darf man sich das auch nicht mehr, eine Flasche Raki kostet mindestens 20 EURO, eine Dose Bier im Supermarkt 2 EURO. Aber das reicht Erdogan noch nicht: Er will die Türkei trocken legen, will den Verkauf immer stärker kontrollieren und unterbinden. Und die Türkei hat kein Alkoholproblem, es ist nicht die UdSSR zur Zeit von Gorbatschow, es ist einzig und alleine die Idee einer islamisierten Gesellschaft.

  • T
    tobi

    @abey

     

    wer das Mandat hat, eine Nation zu leiten und sie zu vertreten, hat sich jeden Tag aufs Neue zu bewähren

     

    es geht in der Tat um eine Momentaufnahme

     

    oder darf man Erdogan erst wieder kritisieren, wenn seine zehn guten Jahre durch zehn schlechte aufgewogen sind?

  • HF
    Hoffnung für alle

    Erdogan gegen das Türkische Volk! Da sind wieder Experten unterwegs. Seine Partei regiert mit einer absoluten Mehrheit und gestern waren fast eine Million Menschen für ihn in Istanbul unterwegs, wo er eine Rede hielt. Ist ja langweilig,keine Randale, oder was? Was ich nicht verstehe ist, möchte man die drei bis vier Bäume im Gezi-Park retten oder die Regierung stürzen? Die nächsten Wahlen sollten uns doch eine Antwort geben. Auf alle Fälle sollte das Land nicht wieder zurück in die Zeit des "dunklen Kemalismus", aber gerade die Kemalisten sind unterwegs mit ihren gefälschten Meldungen im Internet und heizen das Ganze an. Eine schwache Opposition, die sich anders nicht mehr helfen kann.

     

    Das Wichtigste zur Zeit in der Türkei, ist der Friedensprozess mit der PKK und den Kurden und nicht die Regulierung, wann und wo Alkohol getrunken darf. Bei dem "Aufstand" sehe ich ganz viele Fahnen mit dem Konterfei von Atatürk und den Spruch "Wir sind die Soldaten Atatürks". Schön wären Plakate, "Wir sind für eine multikulture Türkei." oder auch "Freiheit für die Kurden". Nein, die Menschen die jetzt den Aufstand proben, haben sich noch vor ein paar Monaten gefreut, als die Polizei in Diyarbakir bei Kurden-Demos sehr hart vorgegangen ist. Und jetzt spüren sie es mal wie das ist von der Polizei so angegangen zu werden. Im Vergleich mit den Demos in den Kurden-Gebieten ist es wohl noch sehr harmlos.

     

    Wenn für alle Menschen im Land Freiheit und Demokratie gewünscht wird dann bin ich gerne dabei. Aber nicht bei dieser Doppelmoral.

  • A
    ama.dablam

    Möglichst viele europäische PolitikerInnen und Vertreter der Zivilgesellschaft sollten jetzt in die Türkei reisen, um die Protestierenden zu unterstützen?

     

    Sorry, aber das ist doch barer Unsinn, fernab jeder seriösen Politik. Haben Sie schon vergessen, dass Sie über eine Regierung schreiben, der noch vor ein paar Wochen von vielen Seiten ein offizieller Beobachterstatus bei einem wenn auch komplexen und politisch heiklen, im Kern jedoch "normalen" Strafprozess in München zugebilligt werden sollte?

     

    Ausländische Politiker haben Istanbul erstmal überhaupt nichts zu suchen, mag das auch noch so "angesagt" sein. Diesen populistischen Aktionismus kann man den üblichen Manifestschreibern überlassen.

     

    Die Türken sind erwachsen genug, Erdogan beim nächsten Mal abzuwählen. Wer meint, nicht bis zu den nächsten Wahlen warten zu können, darf sich fragen lassen, woraus er/sie die Legitimität/Legalität einer Veränderung ableitet.

  • S
    Sven

    Erdogan hat sich entschieden. Er wird die Konfrontation noch steigern. Es ist falsch zu meinen, durch eine weichere Haltung würde sich dies ändern. Es sollte der türkischen Bevölkerung klar gemacht werden, dass jetzt auch ihr relativer Wohlstand gefährdet ist. es sind erste Sanktionen fällig.

  • A
    abey

    So ein blödsinn, ohne dieser Mann wäre die Türkei in eine Militär Diktatur

    Typisch westliche Sicht weise immer nur Momentaufnahme

    Was dieser Mann in den letzten 10 jahren für sein Land gelistet hat sollte mal recherchiert werden