Vergessene Rezepte: Ertränkt in Armagnac
Die Gartenammer ist ein kleiner Singvogel. Sie wird lebend gefangen, 14 Tage lang gemästet und dann mit Kopf und Knochen verspeist.
Vor wenigen Wochen zog ein Hagelsturm über meinen Wohnort, der in einem 20 Kilometer breiten Streifen Autodächer, Jalousien und Fenster zertrümmerte. In den Tagen danach fiel mir auf, dass in meinem Garten, ja überhaupt in den Gärten der Umgebung und sogar im angrenzenden Wald kein Vogel mehr sang. Meine Lokalzeitung lieferte die Erklärung: Durch die Hagelkörner, manchmal so groß wie Tennisbälle, seien mehrere tausend Vögel erschlagen worden, es dauere mindestens drei Jahre, bis sich die Vogelpopulation der Gegend wieder von diesem Massenmord erholt habe.
Singvögel sind mir sehr sympathisch. Ich bin sehr böse auf den Hagel. Italiener sind mir auch sehr sympathisch. Aber auf einige von ihnen bin ich auch sehr böse. Dort, wo ich Urlaub mache, schießen sie im Herbst auf Singvögel.
Der kleinste Vogel, den ich einmal aß, war eine Wachtel. Ich war des Französischen nicht mächtig und bestellte in einem südfranzösischen Gasthof das Gericht „Caille sur Canapé“, weil ich gern Gerichte auf Speisekarten bestelle, die ich nicht verstehe, und mich überraschen lasse. Die gebratenen Schlegel der Wachtel lagen auf einem gerösteten Weißbrot (Canapé) und schmeckten. Mir war trotzdem unwohl, so wie mir unwohl ist, wenn ich „Stubenküken“ auf der Karte lese. Denn je kleiner das Tier, desto größer mein schlechtes Gewissen. Darf man ein Tier töten, von dessen Fleisch nur zwei Bissen auf dem Teller landen?
Mit der TV-Debatte am Sonntag beginnt die heiße Phase des Wahlkampfs zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück. Ulrich Schulte und Anja Maier stellen ein Paar vor, das ungleicher nicht sein könnte. Den Kandidaten-Check lesen Sie in der taz.am wochenende vom 31. August/1. September 2013 . Darin außerdem: Was ist konservativ? Auf der Suche nach einer politischen Strömung, die zum Rinnsal geworden ist. Und: Soll man anonyme Kommentare im Netz verbieten? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Demnächst geht in Italien wieder die Jagdsaison los. Es gibt dort 835.000 registrierte Jäger. Berg- und Buchfinken gelten manchen von ihnen als Delikatesse, und in Frankreich, wo die Jagd auf Ammern eigentlich verboten ist, wird der sperlinggroße Singvogel noch immer sehr geschätzt.
François Mitterand, der verstorbene Präsident, war ein großer Liebhaber der Fettammer, die dort Ortolan genannt wird und Fettammer nur deshalb heißt, weil die lebend in Netzen gefangenen Vögel vor ihrem Verzehr noch kräftig gemästet werden, um dann mit Kopf und Knochen verspeist zu werden. Wir empören uns heute darüber, aber noch vor zweihundert Jahren waren Täubchen, Finken, Staren und Amseln beliebte Abwechslungen auf den Tellern vor allem der adeligen Gesellschaft. Die Fettammer zählt daher zu den zu Recht bei uns vergessenen Rezepten.
Einer der besten Köche des Jahrhunderts, der Franzose Alain Ducasse, hat 2005 in seinem Standardwerk („Grand Livre de Cuisine d’Alain Ducasse“) auf Seite 749 die Zubereitung der Fettammer beschreiben. Man kann ihn deshalb beschimpfen. Man müsste dann aber auch die Japaner beschimpfen, die lebende Jungaale verspeisen oder die Einwohner Benins, die Hunde braten. Der große Wolfram Siebeck schrieb einmal über Eskimos, die Fliegenmarmelade lieben, als Beilage zum Robbenfilet. Die Essgewohnheiten auf der Welt sind eben sehr verschieden.
Das Rezept: Ortolane dürfen in Frankreich nicht mehr gejagt werden, und so ist das Fettammerrezept auch dort weitgehend in Vergessenheit geraten. Wie man die Vögel zubereitet, muss man deshalb in alten Kochbüchern nachlesen. Auch Wikipedia erinnert an jenes seltsame kulinarische Ritual. Dort wird folgende Zubereitung beschrieben: „Der Ortolan wird gefangen und im Dunkeln etwa 14 Tage lang gemästet. Die Dunkelheit verwirrt den Tag-und-Nacht-Rhythmus des Vogels, sodass er ständig frisst. Er erreicht dann etwa das Dreifache seines ursprünglichen Gewichts. Er wird in Armagnac ertränkt und in einem speziellen kleinen Topf in Fett gegart. Zum Essen wird der Vogel komplett in den Mund genommen und zerkaut. Dabei stülpt sich der Esser eine Serviette über den Kopf. Zum einen soll die Serviette den Duft nah an Mund und Nase führen, zum anderen gilt es als manierlich, Tischnachbarn nicht mit dem Anblick und den entstehenden Geräuschen zu belästigen.“
Bei einem Jägerschnitzel wird dagegen kaum jemand aufschreien, obwohl das arme Schwein in seinem kurzen Leben nie die Sonne gesehen hat. In Deutschland leben rund 28 Millionen Schweine. Ich habe nur ganz selten ein Schwein auf einer Weide gesehen. So eine Ammer hatte wahrscheinlich bis zu ihrem Tod ein schöneres Leben.
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