piwik no script img

Pop-Buchvorstellung mit DiederichsenTriebabfuhr des Bindestrich-Wesens

Mit rasend schnellem Vortrag stellt Diedrich Diederichsen in Berlin sein neues Buch „Über Pop-Musik“ vor. Körperlich ebenfalls anwesend: René Pollesch.

Wladimir Pollesch und Estragon Estragonsen am Dienstagabend im HAU, rechts: Doris Godot Bild: Jürgen Fehrmann/HAU

Rang oder Parkett? Eine Frage, die am Dienstag im Berliner HAU existenziell erscheint. Der Saal ist voll. Viele Kritikerkollegen sind gekommen. Schriftsteller, Verlagsleute und Kulturarbeiter. Junge, Alte. Frauen, Männer. Ein bisschen Audimax, ein bisschen UNO-Vollversammlung.

Auf der Bühne absurdes Theater: drei Stühle, dahinter eine Leinwand. Und die drei Protagonisten träumen ihrem Verfall entgegen. Nein, anders als bei Samuel Beckett wirkt das hier Dargebotene nicht des Lebens überdrüssig. Zunächst tritt Helge Malchow auf den Plan, Verleger von Kiepenheuer & Witsch.

Er wartet mit nüchternen Zahlen auf – das neunte Buch seines Autors seit 1985 sei etwas Besonderes. Ablesbar schon an den Debatten, die die vielen Rezensionen ausgelöst haben, und dem Erfolg: Die Startauflage ist fast weg. Zufrieden erklärt Malchow, dass „Über Pop-Musik“ seinen Lesern theoretische Anstrengung abverlangt.

Einheitlich in Blau gekleidet kommen Diedrich Diederichsen und René Pollesch auf die Bühne. Was die Frage der Bild-Zeitung an ihn sein könnte, möchte Moderatorin und taz-Redakteurin Doris Akrap von Diederichsen zunächst wissen. „Wir summen so gerne Songs, warum soll dies keine Musik sein?“, schlägt er vor.

Summen sei eine Mnemotechnik, erklärt Diederichsen. Erleben und Merken von phonographischen Klängen seien etwas anderes als reine Musik. Das Bindestrich-Wesen von Pop-Musik ist die Grundüberlegung in Diederichsens Buch. Medien, Technik und Hörerfahrung fallen darin zusammen. Davon leitet er die wichtige Rolle der Rezipienten ab. Und kann damit über seine eigene Pop-Genese nachdenken.

Pollesch schweigt meist

Ein Video der Small Faces und ihres Songs „Itchycoo Park“ wird eingespielt. Er spielte eine Rolle in Diederichsens Kindheit. Da Gesang und Schlagzeug-Wirbel durch einen Flanger-Effekt verfremdet sind, war ihm das Mitsingen unmöglich. Und Pollesch? Nein, der hatte keine vergleichbaren Pop-Epiphanien. Er schweigt meist.

Die Gesprächshoheit hat Diederichsen. Wenn er rasend schnell aus dem Buch vorträgt, bleiben selbst hartgekochten Steno-Eiern nur einzelne Worte erinnerlich: „Antikommunismus“, „Sexual Neurose“, „Saalschlacht“, „Triebabfuhr“. Der Nährboden für Pop-Musik circa 1955.

Und dann kommen auch die „Beckett-Figuren“ ins Spiel, die Diederichsen einer Filmkritik von Helmut Färber entnommen hat. Dieser bezeichnete so die zwischen Camp und Pop tätigen queeren Underground-Filmer aus New York. Mit ihnen beginne das widerständische Element des Pop, sagt Diederichsen. Jetzt kommt etwas mehr Leben in die Bude. Pollesch mischt sich ein: „Ich finde an Samuel Beckett interessant, wie er mit intakten Körpern die Welt darstellt.“ Danach schweigt er wieder.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!