„Zu jung zu alt zu deutsch“: Die Schuld als Identitätskern

Regisseur Nick Hartnagel destilliert am Staatstheater Hannover Klischees aus aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Nationalismus.

Keiner wird sie los: Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf der Theaterbühne. Bild: Isabel Machado Rios

HANNOVER taz | Die üblichen Verdächtigen pressen ihren Körper an eine Betonwand, grell ausgeleuchtet fürs Fahndungsfoto – oder zur Identifizierung durch Zeugen. Sind sie schuldig? Mitschuldig? Unschuldig? Irgendwie verantwortlich? Solistisch oder in wechselnden Konstellationen treten Jens, Gitte, Sascha, Micha und Lydia aus dem Gruppenbild heraus und vor ihnen auf der zum Skaten einladenden Schräge an, in rasant geschnittener Szenenfolge ihr Leben in Beziehung zur deutschen Vergangenheit zu skizzieren.

Von radikalen Alt, Jung und Anti-Nazis geht die Rede im verknappten, roh artikulierten Rotzjargon, eine Zuwanderin ohne Papiere trifft auf eine durchs Leben putzjobbende Deutsche, ein Ex-Knasti und ein verzweifelter Harmoniefreak kämpfen um die Gunst derselben Frau. Das Staatstheater Hannover holt das 2009 in Osnabrück uraufgeführte Stück von Dirk Laucke wieder auf die Bühne.

Regisseur Nick Hartnagel umschifft alle Ansätze eines resignierten Sozialrealismus und destilliert die Klischees unkommentiert aus der immer aktuellen Auseinandersetzung mit dem Nationalismus. Mit geradezu übersprudelnder Energie und dabei sensationeller Spielpräzision konfrontiert das Ensemble die schroff behaupteten Positionen. Mein Gott, ist da zu hören, der Kram ist 80 Jahren her, irgendwann muss das doch auch mal begraben werden.

Irgendwann ist der Mist doch mal vorbei? Eben nicht. Gerade weil alle nichts sehnlicher wünschen, als die Vergangenheit loszuwerden, ist sie der Antrieb ihres Lebens. Dieses Stücks. Holt alle immer wieder ein. Und Laucke kratzt mit „Zu jung zu alt zu deutsch“ dramatisch gekonnt an der Oberfläche des nie Abzuhakenden.

Während die letzten Überlebenden und Täter sterben, ihre aufklärungswilligen Kindern die Identifikation mit den Verfolgten bereits ermöglicht haben, ist nun die dritte Generation dran. Egal ob man sie X, Y, Z oder P (wie Praktikum oder Prekär nennt), für sie ist der Nationalsozialismus ganz und gar Historie. Zu jung für persönliche Erinnerungen, schon zu alt an Erfahrung, um schlicht zu vergessen, aber auch zu deutsch, um selbstbewusst zu ignorieren.

Zum Identitätskern Deutschlands scheint die Frage nach der Schuld zu gehören. Versuche, sich davon zu erlösen, gibt es reichlich. Einfach mal den Grund und Boden sauber pusten, wie es auf der Bühne versucht wird, klappt schon mal nicht, immer bleiben Reste der vorherigen Szene liegen. Genauso wenig funktioniert das so öffentliche und gleichwohl normierte Sprechen über das Gedenken, denn es spielt Erinnerungsarbeit ja eigentlich nur vor, was die wirklich schwierige Frage danach verdrängt: Was geht uns das alles heute noch an? Und: Darf wieder über den Holocaust gelacht werden?

Das Publikum gniggert jedenfalls bei den erzählten Witzen wie dem von der Beule in einer Gasleitung: „Das ist ein Jude auf der Flucht.“ Micha (Sandro Tajouri) macht so was dauer-wütend. Einst war er Metal-Headbanger, nun ist er linksradikaler Skin: „Der Anfang vom Poken gegen euch Arschlöcher“, beschimpft er die Zuschauer, wittert hinter jedem Gartenzaun einen Nazi und hat gar nicht genug Mittelfinger für die „deutsche Seuche“.

Michas Verfolgungswahn und Bedrohungsszenarien stehen „strukturell“, wie ihm Jens (Philippe Goos) vorwirft, der faschistischen Ideologie recht nahe. Solche Widersprüche schrieb Laucke jeder Figur ein. Gitte (Susana Fernandes Genebra) meint, NS-Vorbeugung funktioniere schon prima, schließlich sei Deutschland nach dem Krieg so hässlich wiederaufgebaut worden, dass sich keiner mehr damit identifizieren möchte. Sie selbst hasst die deutsche Lebensart, auch weil sie sozial/finanziell ausgeschlossen ist, will sie nach Lissabon auswandern – wo sie später mit „Heil, Hitler“ begrüßt wird.

Flüchten geht also auch nicht. Zuvor aber begegnet sie noch der osteuropäische Jüdin Sascha (Karolina Horster), die für die Zukunft ihrer Kinder arbeiten will, aber erstmal von Gitte Antisemitisches zu hören bekommt – und schnell wieder heim will. Aber die Dessous-Kostümierung, mit der beide Frauen einem Rentner in vollem SS-Ornat gegen Extrahonorar vortanzten, lässt sich nicht mehr vom Leib reißen. Vergangenheit also nicht einfach ausziehen. Und auch nicht verdrängen oder verleugnen. Wie es Lydia (Sina Martens) mit eben diesem Unbelehrbaren versucht.

Er ist ihr Opa. Aus Scham oder Schuld fehlte Lydia einst auf keiner Demo gegen rechts. Jetzt will sie davon nichts mehr wissen, ist schwanger vom netten Jens, möchte das als Einstieg nutzen, in kleinbürgerlicher Kuschelwärme, ihre Vergangenheit einfach totzuschweigen. Es klapp nicht. Als Micha, ihr Ex, auftaucht, alte Wunden wieder aufwühlt, erwacht bei Lydia die „Schlagwortkacke“ und kämpferisch skandierte Empörung, mit der sie nun für ihre neue Lebenslüge kämpft.

Anstatt sich mit altem Leben auseinanderzusetzen. Summa summarum, politisch oder privat: Vergangenheit wird hier keiner los – sie bestimmt das Leben. Alles andere ist Selbstbetrug. Autor Laucke hat dafür ein typisch deutsches Beispiel gefunden, von dem er im Winterspielzeitheft des Theaters erzählt: „Fichte, der berühmte Philosoph hat gesagt: Selbst wenn die Juden alle noch konvertieren, was in den Augen der damaligen Zeit eigentlich die Lösung der sogenannten Judenfrage dargestellt hätte, wird man das Jüdische nicht aus ihren Köpfen kriegen, es sei denn, man schneidet sie ab.“

Ist das falsch gedacht? Oder hat Jens recht, wenn er nun die Schnauze voll hat vom „Rumkauen“ auf dem Faschismus: „Es steht mir bis hier, mich deswegen schlecht zu fühlen.“ Er will nicht dem Generalverdacht unterliegen, Massenmörder zu sein, nur weil er gegen die israelische Aggressionspolitik „raus aus Palästina“ fordert. Und eine zum Fußball-WM-Sieg herausgehängte schwarz-rot-goldene Fahne bedeute nicht, dass er Hitler wiederhaben wolle.

Wann wird der Party-Nationalismus chauvinistisch? Regisseur Nick Hartnagel setzt noch einen drauf, sucht aktuelle Beispiele fürs allgemeine Wegschauen, wie es in der Nazizeit praktiziert wurde. „Es ist heute ja andauernd möglich, Dinge zu wissen und wissend das Leiden von Menschen zuzulassen“, sagt er und baut in den Text Anspielungen ein – etwa auf die globalen Produktionsbedingungen unseres Reichtums.

Ein Abend also, der wider das sozial erwünschte Sprechen über eine tabuisierte Epoche ständig zum Widerspruch reizt, nicht im Verurteilen der Nazi-Gräuel das gemeinsame Bekenntnis zu Demokratie und Humanismus erledigt, sondern es wach zu halten versucht fürs moralische Alltagsgeschäft. So entkommt man der Vergangenheit zwar auch nicht, aber besser mit ihr klar.

nächste Vorstellungen: 9., 14. und 30. 12. sowie 11. und 22. 01. 2015, 20 Uhr, Hannover, Cumberlandsche Bühne;
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