big brother staat wird höflich von RALF SOTSCHECK :
Der Engländer liebt es, überwacht zu werden. In keinem anderen Land ist das Netz der Überwachungskameras so dicht wie in Großbritannien. Seitdem zwei Zehnjährige 1993 in Liverpool mit Hilfe solcher Kameras des Mordes an einem Dreijährigen überführt werden konnten, nutzt Big Brother Staat das als Argument für immer umfassendere Schnüffelei. Zwar konnten die Anschläge auf drei Londoner U-Bahnen und einen Bus voriges Jahr nicht verhindert werden, aber wenigstens konnte die Nation die vier Täter danach mithilfe des Filmmaterials aus Überwachungskameras gebannt auf ihrer tödlichen Reise begleiten.
In Middlesbrough ist man jetzt einen Schritt weiter gegangen: 7 von 158 Kameras in der Innenstadt sind mit Lautsprechern ausgerüstet worden. Falls das Experiment erfolgreich ist, soll es auf die Wohnviertel ausgedehnt werden. Jack Bonner, der das Experiment leitet, ist jetzt schon begeistert. „Das ist eine höllische Abschreckung“, sagt er. „Wenn diese Kamera laut und deutlich ausposaunt, was man gerade falsch gemacht hat, schämen sich die meisten Leute so sehr, dass sie sich schleunigst verdrücken und keinen Ärger mehr machen.“
Die Kameras werden von einem Kontrollzentrum im Busbahnhof der Stadt bedient. Entdecken die Mitarbeiter, dass jemand Müll wegwirft oder in einer alkoholfreien Zone auf offener Straße Schnaps trinkt, weisen sie ihn höflich, aber bestimmt auf sein Fehlverhalten hin. Die Mitarbeiter mussten Schulungskurse absolvieren, wo ihnen Lautsprecher-Etikette beigebracht wurde. „Wenn der Täter kooperiert, bedanken wir uns artig“, sagt Bonner. Also ungefähr so: „Würde der maskierte Herr bitte erwägen, der Lady ihre Geldbörse zurückzugeben?“ Danke sehr.
Eines Abends sei es vor einem Nachtklub zu einer Schlägerei gekommen, sagt Bonner. Als die Stimme aus der Kamera die beiden Herren bat, sofort damit aufzuhören, machten sie sich verdutzt aus dem Staub – und setzten ihre Prügelei vermutlich außer Sichtweite fort. Einen Radfahrer ermahnte die Kamera: „Würde der junge Mann auf dem Fahrrad bitte absteigen, da er gerade in einer Fußgängerzone radelt?“ Der junge Mann fiel vor Schreck vom Fahrrad. Die Mitarbeiter können aber auch hilfsbereit sein. Ein Inder, der eine Tüte verloren hatte, wurde per Lautsprecher darauf hingewiesen, dass er seinen Elefantenfußteller aufheben solle. „Sonst hätte der arme Kerl vom Boden essen müssen“, sagt Bonner.
Ein ähnliches Überwachungsexperiment hatte es bereits voriges Jahr in diversen Städten gegeben. In dunklen Ecken, in denen sich nachts Prostituierte und Drogendealer herumtrieben, wurden automatische Kameras aufgestellt. Spürte die Kamera im Umkreis von 30 Metern eine Bewegung, machte sie ein Blitzlichtfoto und eine Ansage sprang an: „Verlass sofort die Gegend!“
Das Problem war, dass die Kameras eine Hure mit Kunde nicht von einer Oma mit Hund unterscheiden konnte. In Wakefield klauten Unbekannte 60 dieser sprechenden Kameras, obwohl die lauthals schrien. Das führte dazu, dass eine ältere Anwohnerin glaubte, Gottes Stimme zu hören. Und die riet ihr, sofort die Gegend zu verlassen. Seitdem wurde sie nicht mehr gesehen.