: Die Schande von Srebrenica
Warnungen vor einem Massaker in der ostbosnischen UNO-Schutzzone gab es genug. Der Journalist David Rohde versucht in seinem gerade erschienenen Buch eine Antwort auf die Frage, warum es dennoch stattgefunden hat ■ Von Erich Rathfelder
Aus der Entfernung sahen die dunklen Flecken wie achtlos weggeworfene Kleiderbündel aus. Als wir näher kamen, liefen uns Schauder über den Rücken. Im Waldstück vor uns lagen Hunderte von Leichen, Skelette, die noch in den Kleidern steckten, in angemoderten Jeans und Lederjacken, in Hemden und Turnschuhen. Bei manchen waren die Ausweispapiere noch in den Taschen zu finden, Rucksäcke und andere Gepäckstücke lagen herum. Wie in Trance stapften wir durch das teilweise von Schnee bedeckte killing field in der Nähe der ostbosnischen Stadt Srebrenica und sahen die Einschußlöcher in den Schädeln.
Wir wunderten uns, daß sich niemand die Mühe gemacht hatte, die seit Mitte Juli 1995 hier liegenden Leichen zu bergen. Nicht einmal die Spuren des Verbrechens, das hier ein halbes Jahr zuvor stattgefunden hatte, waren verwischt. Noch heute werden 7.079 Muslime aus der ehemaligen UN-Schutzzone Srebrenica vermißt. Hoffnungen auf Überlebende gibt es kaum noch, es ist anzunehmen, daß sie allesamt getötet wurden. Nie vergessen werde ich die flehentlich ausgestreckte Hand eines Toten, die aus einem Straßengraben herausragte.
Das war im Februar 1996, während eines Besuchs der UN-Menschenrechtsbeauftragten Elisabeth Rehm in der von Serben eroberten mehrheitlich muslimischen Stadt. Das auf den killing fields kaum unterdrückte Lachen der serbischen Polizisten und Begleiter ist ebenfalls eine der Erinnerungen, die bleiben.
Spekulationen über einen Austausch der Enklave ...
Srebrenica markierte das Ende der UNO-Mission in Bosnien-Herzegowina. Die Führung der Vereinten Nationen, vor allem der Gesandte des Generalsekretärs, der Japaner Jasushi Akashi, spielte wohl eine der unrühmlichsten Rollen in diesem Drama. Schon im März 1995 versuchten Mitglieder des Srebrenica-Komitees in Tuzla verzweifelt, die Weltöffentlichkeit für ihr Anliegen zu mobilisieren. Gegenüber dem slowenischen Reporter Ervin Hladnik-Milharcić, dem amerikanischen Journalisten Paul Hockenos und mir drückten diese 1993 nach Tuzla geflohenen Bürger Srebrenicas ihre Befürchtung aus, es seien im Hintergrund Verhandlungen über den Austausch der Enklave mit der serbisch kontrollierten Region um die Hauptstadt Sarajevo im Gange. Der Unwillen der UNO, ihre Verpflichtungen für die 40.000 Menschen in der Schutzzone Srebrenica zu übernehmen und die Versorgungskonvois durch das Gebiet der Belagerer zu schleusen, habe zu Hunger unter der Bevölkerung geführt. „Wir wollen die Welt warnen“, sagten sie, „wir fürchten, daß es zu einer Katastrophe kommt. Man will die Bevölkerung weichkochen, bis sie bereit ist, freiwillig die Enklave zu verlassen.“
In dem damals noch belagerten Sarajevo erfuhren wir, daß Radovan Karadžić schon im Januar 1995 den Vorschlag eines Gebietsaustauschs gemacht hatte. Und daß der bosnische Präsident Alija Izetbegović die Diskussion darüber „zwar abgelehnt, aber in Erwägung gezogen hat“, wie sich ein enger Mitarbeiter ausdrückte.
In einem Interview im Mai erklärte Jasushi Akashi, daß die ostbosnischen Enklaven als „Schutzzonen der UNO ein großes Problem“ seien. Bei einem Besuch in Tuzla im Juni waren die Leute aus Srebrenica verzweifelt. Naser Orić, der Kommandant Srebrenicas, sei schon im Mai nach Tuzla gekommen, obwohl die serbischen Truppen Quadratkilometer um Quadratkilometer der Enklave eroberten. Sie sahen dies als einen Beweis für ihre These an, daß Srebrenica geopfert werden sollte. Im Gegenzug sollte der Belagerungsring um Sarajevo aufgehoben werden.
Ein britischer Informationsoffizier der UN in Tuzla bestätigte dies auf seine Weise. Angesprochen auf die militärischen Angriffe, erklärte er, die UNO-Truppen hätten nicht das Mandat, die Bevölkerung von Srebrenica zu schützen. Sie hätten nicht einmal die Kraft, dies für sich selbst zu tun. Für die UNO-Soldaten wäre es das beste, die Enklave ganz aufzugeben. Zu diesem Zeitpunkt war der Abzug der UNO-Truppen aus der Enklave für den Januar 1996 sogar schon entschieden. „Die Verhandler der UN kamen schon im Dezember 1994 zu mir, um mich zur Aufgabe des Widerstandes zu bewegen“, erklärte später einmal der Kommandeur der bosnischen Armee in der Enklave Bihać, Atif Dudaković.
1995 war der Krieg in Bosnien in das dritte Jahr gegangen. Das Interesse schwand, je unübersichtlicher die Lage wurde. Zudem war es der serbischen Propaganda gelungen, Mißtrauen gegenüber den Verteidigern von Sarajevo zu säen. Immer wieder wurde die Lüge wiederholt, die bosnische Armee habe Sarajevo selbst beschossen und ein Massaker auf dem Marktplatz verursacht, um den Westen zum Eingreifen zu zwingen. So gab es nur wenige offene Ohren für Warnungen in bezug auf das Schicksal von Srebrenica. Selbst nach dem Fall der Stadt wirkte die Verunsicherung nach. Bis heute werden die Ereignisse von Srebrenica in der serbischen Propaganda „als Reaktion der Serben auf die Angriffe der Muslime“ heruntergespielt.
Wer jedoch das diesen Juli erschienene Buch von David Rohde, „Die letzten Tage von Srebrenica“, liest, kommt der historischen Wahrheit ein weites Stück näher. Das Buch ist in der besten Tradition angelsächsischen Journalismus akribisch faktentreu und dabei spannend zu lesen. Rohde gelingt es, die Tage der Eroberung Srebrenicas vom 6. bis 13. Juli 1995, die Flucht und die Massaker aus unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben. Indem er nahe an handelnden Personen aller Seiten bleibt, gelingt es ihm, ein Mosaik zu entfalten, das nach und nach feste Konturen gewinnt.
Die Geschichte von zwei niederländischen UN-Soldaten kreuzt sich mit der eines muslimischen Soldaten, einer muslimischen Übersetzerin und einer Hausfrau, mit der Geschichte eines aus Srebrenica stammenden und mit dem serbischen General Ratko Mladić kämpfenden Serben, mit dem in Den Haag inzwischen verurteilten bosnischen Kroaten Drazen Erdemović, der auf der Seite der Serben kämpfte. Jede Stunde der Ereignisse wird durch die Augen dieser Personen dokumentiert. Und diese Erfahrungen werden konfrontiert mit den Entscheidungen des Kommandeurs der niederländischen UN-Truppen, Thomas Karremans, bis hin zu den höchsten Etagen der Politik in Sarajevo, Belgrad und Zagreb, in Washington und im UNO-Hauptquartier in New York. Und was besonders hervorzuheben ist: Rohde läßt Lücken, gibt sich nicht den Anschein, alle Fragen schon jetzt beantworten zu können.Das Buch beginnt mit einer Szene auf einem Beobachtungsposten der Blauhelme am 6. Juli im südlichen Teil der Enklave. Serbische Truppen beginnen den Posten zu beschießen. Die Besatzung fordert Verstärkung und den Einsatz von Kampfflugzeugen der Nato. Dies wird jedoch abgelehnt. Die serbischen Truppen nehmen den UN- Posten ein. In den folgenden Tagen werden mehrere Posten aufgegeben. Die muslimische Bevölkerung, die nach einem Abkommen von 1993 ihre Waffen zum größten Teil abgegeben hat, beginnt zu verstehen, daß die UNO-Truppen nicht bereit sind, sie zu verteidigen. Die Bevölkerung reagiert aggressiv, ein holländischer Soldat wird bei dem Rückzug durch eine muslimische Handgranate getötet. Einige der holländischen Soldaten beantworten die Feindseligkeiten, indem sie sich fragen, weshalb sie eigentlich hier ihr Leben riskieren.
Langsam rücken die serbischen Truppen an den folgenden Tagen vor, beschießen mit Panzern die in die Stadt Srebrenica fliehende und von Panik erfaßte Bevölkerung. Einige Muslime stellen sich entgegen dem Befehl ihres Kommandeurs den Serben entgegen und können den Angriff für kurze Zeit aufhalten. Die bosnische Regierung empfiehlt den Verteidigern, stillzuhalten und auf Bombenangriffe der Nato zu vertrauen. Srebrenica werde nicht fallen.
Am 11. Juli ist es jedoch soweit. Serbische Truppen stehen in der Stadt, die Luftangriffe sind ausgeblieben, die bosnische Armee gibt den Widerstand auf. Der Oberkommandierende der UNO-Truppen, der französische General Bernard Janvier, hat zusammen mit Jasushi Akashi Luftangriffe immer wieder hinausgezögert, lediglich zwei Bomben werden nach der Eroberung der Stadt abgeworfen. Dies kann der Bevölkerung, die inzwischen in einem langen Treck zu dem nördlich gelegenen Lager der UNO nach Potocari geflohen ist, keine Hoffnung mehr geben.
Dort kommt es zu grausigen Szenen, nachdem der serbische Oberkommandierende Ratko Mladić auf den Plan getreten ist. Gefangene werden erschossen oder in Lager nach Bratunac und anderen Orten gebracht. Die UNO-Truppen verhindern diese Untaten nicht. Immerhin gelingt es ihnen, die 23.000 Frauen und Kinder mit Bussen in das von bosnischen Truppen kontrollierte Tuzla zu bringen. Die Männer von Srebrenica, rund 15.000, versuchen gleichzeitig, zu Fuß die Region Tuzla zu erreichen. Auf diesem „Todesmarsch der Männer von Srebrenica“ verlieren nach serbischen Angriffen auf die Kolonnen Tausende das Leben. Viele werden gefangengenommen und an Ort und Stelle erschossen.
In Tuzla habe ich die Frauen ankommen sehen, die dann auf dem offenen Feld am Rande des Flugplatzes kampierten. Ich sah ihre Verzweiflung und Trauer, ihre Ungewißheit über das Schicksal ihrer Männer. Als die ersten Männer durch die serbischen Linien sickerten und in Tuzla eintrafen, traf ich sie, abgemergelt, glücklich und schockiert zugleich, Ausschau haltend nach ihren Familien.
David Rohde greift die Frage nach der Schuld an der Tragödie von Srebrenica auf. Nach seinen Recherchen trägt der französische General Bernard Janvier die Hauptverantwortung, weil er Nato-Luftangriffe verweigert hat. Rohde vermutet sogar, daß Janvier vor den Ereignissen von Srebrenica geheime Gepräche mit Mladić geführt hat. Im Gegenzug seien französische UN-Soldaten, die als Geiseln von den Serben gehalten wurden, freigekommen. Die UNO habe ihre Verpflichtungen gegenüber den Menschen in den Schutzzonen nicht ernst genommen. Gleichzeitig zeigt er die objektiven Schwierigkeiten, die Mängel in der Befehlskette, die gegenseitige Behinderung von Nato und UNO.
... werden von Dayton bestätigt
Doch er tritt allen Spekulationen entgegen, daß es einen geheimen Plan zum Austausch der ostbosnischen Enklaven mit dem Gebiet um Sarajevo gegeben habe. Sein Hauptargument dafür ist, daß man Staaten und Institutionen, die während des Bosnienkrieges unterschiedliche politische Positionen einnahmen, nicht unter einen Hut hätte bringen können. Wer jedoch auf das Resultat der Verhandlungen von Dayton sieht, wird erkennen, daß genau das eingetreten ist, was den Mächten von den Flüchtlingen von Srebrenica nach wie vor vorgeworfen wird: Srebrenica liegt heute im serbisch kontrollierten Gebiet Bosniens, die Region um Sarajevo ist muslimisch kontrolliert. Die Belagerung von Sarajevo wurde aufgehoben.
David Rohde: „Die letzten Tage von Srebrenica“. rororo aktuell 1997, 24,90 DM
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