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Radikale Software

Jetzt restauriert, kompiliert und käuflich zu erwerben: Eine Sammlung mit amerikanischen Guerilla-Videos aus den frühen siebziger Jahren  ■ Von Tilman Baumgärtel

„If you don't like the news, why not go out and make your own?“

Abbie Hoffman 1968

Anfang der 70er Jahre war Video in den USA nicht nur ein neues Medium, sondern auch eine soziopolitische Wunschmaschine. Was die „alten“ Medien ihren Usern beharrlich verweigerten, sollte das neue Medium Video endlich wahr machen: Es sollte den Konsumenten zum Produzenten emanzipieren und die audiovisuelle Alleinherrschaft der großen amerikanischen Fernseh-Networks unterwandern. Ab 1968 entstanden in den USA Videogruppen mit Namen wie „Videofreex“, „People's Communications Network“ oder „Portable Channel“. Ihr gemeinsames Programm: Video als kulturrevolutionäre Waffe gegen das Massenmedium Fernsehen zu erproben. Lange bevor in Deutschland in den 80er Jahren Gruppen wie die Medienwerkstatt Freiburg Video als Medium einer linken Gegenöffentlichkeit nutzten, gab es in den USA eine florierende, politische Videoszene.

Blick zurück auf die erste Dekade

Die Geschichte der amerikanischen „Guerilla-Videos“ ist im deutschsprachigen Bereich praktisch unbekannt. Jetzt ist in den USA eine Auswahl aus diesen Jahren als Sammlung auf Video veröffentlicht worden: „Surveying the first decade: Video Art and Alternative Media in the United States“ heißt die Kollektion, die die Video Data Bank aus Chicago nach jahrelanger Recherche und Restaurierung der zum Teil vom Verfall bedrohten Bänder zusammengestellt hat.

Während sich die ersten vier Kassetten dieser beeindruckenden Sammlung der Videokunst der 60er und 70er Jahre widmeten, enthält der jetzt erschienene zweite Teil Beispiele des amerikanischen Video-Aktivismus. Kuratorin Chris Hill, Dozentin am Antioch College in Ohio, hat in mühevoller Kleinarbeit Tapes aus den entlegensten Archiven hervorgeholt und außerdem Interviews mit den Protagonisten der „Guerilla-Video“-Bewegung geführt, die sie im Internet veröffentlicht hat. Sie ergeben zusammen ein aufregendes Bild der Videoszene der späten 60er und frühen 70er Jahre.

Die Guerilla-Videos haben bis heute ihre Frische bewahrt: Selbst ein komplett formalistisches Experiment wie „Mayday Realtime“ von David Cort und Curtis Ratcliff ist heute ein lebendiges Porträt der Protestkultur der Vietnamjahre. Weil Video damals noch schwer zu schneiden war (montiert wurde mit Rasiermesser und Klebstoff, nicht durch Kopieren wie heute) und weil Video im Gegensatz zu Film fast beliebig lange Aufnahmen zuließ, gingen die Videomacher einfach mit laufender Videokamera durch eine Antikriegsdemonstration in Washington. Straßenkreuzungen werden besetzt und von der Polizei geräumt, Tränengas wabert im Hintergrund, Passanten sagen ihre Meinung in die laufende Kamera, und all das vermittelt einen viel lebendigeren Eindruck des Vietnamprotestes, als jeder sauber zusammengestellte Dokumentarfilm es je könnte.

Weil den Videomachern nicht dasselbe Mißtrauen entgegenschlug wie den Reportern der großen TV-Sender, bekamen die Video-Guerilleros Szenen vor die Kamera, die kein Fernsehreporter hätte filmen können: In den Filmen des People's Video Theatre sieht man unter anderem den ersten „Gay Pride March“ in New York oder die Besetzung einer Kirche durch die Young Lords, eine militante Gruppe junger Puertoricaner, die sich die Black Panther zum Vorbild genommen hatten. Das neue Medium verband sich umgehend mit den neuen sozialen Bewegungen, die zu dieser Zeit in den USA entstanden: Black Power, Schwulenbewegung, Feminismus.

Statt Zentralisierung mehr Feedback

Aus heutiger Sicht wirkt es fast so, als sei das Medium Video die technologische Umsetzung einiger Ziele der Revolte der späten Sixties gewesen. Es erlaubt nicht nur die Produktion von Filmen durch Nichtfachleute; es war auch flüchtig, flexibel und billig genug, um als Katalysator für Kommunikationsprozesse zu fungieren. Video war nicht nur ein neues Aufzeichnungsmedium, sondern weckte auch Hoffnungen auf alternative Methoden der Distribution. „Intuitiv wissen wir, daß es in unserem gegenwärtigen kulturellen System zuviel Zentralisierung und zuwenig Feedback gibt“, hieß es in dem Vorwort der ersten amerikanischen Videozeitschrift Radical Software. Heute erinnert viel von den Medienutopien, die Video Anfang der 70er Jahre auslöste, an die Visionen, die das Many-to-Many-Medium Internet vor einigen Jahren beflügelt hat.

Nicht alle wollten sich freilich damals von dieser Begeisterung anstecken lassen: Schon 1969 startete die Gruppe Videofreex einen eigenen Fernseh-Piratensender. Im ländlichen Woodstock sendeten sie einmal in der Woche ein eigenes Programm, das von den benachbarten Farmen empfangen werden konnte. Erst als eine Nachbarin sich beschwerte, daß die Guerilla-Sendungen sie beim Empfang ihrer Lieblings-Soap störten, wurde der Sendebetrieb eingestellt.

Surveying the first decade: Video Art and Alternative Media in the United States“, Teil 2, Video Data Bank (Chicago), 600 Dollar. Fünf Kassetten mit Videos von People's Video Theatre, Steina und Woody Vasulka, Ant Farm, Top Value Television, Down Town Community Television, Richard Serra u.a., Kuratorin: Chris Hill, Bezug: Video Data Bank, Art Institute of Chicago, 112 South Michgan Avenue, Chicago, Illinois, 60603, USA. Chris Hill: Attention! Production! Audience!: Performing Video in its First Decade http://www.no madnet.org/video/index.html. Chris Hills Interviews mit amerikanischen Video-Guerilleros http:// wings.buffalo.edu/academic/ department/AandL/media_study/ intervs/interviews.htm

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