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„Keine Träumer mehr in Serbien“

■ E-Mail aus Belgrad: Die taz dokumentiert in loser Reihenfolge die Briefe der 24jährigen Studentin Andjela an ihre Freunde beim Augsburger Jugendmagazin „X-Mag“

Lieber Albert,

Belgrad stand noch nie im Verdacht, zu den schönen Städten Europas zu zählen. Die Stadt ist relativ klein und mit fast zwei Millionen Einwohnern im Grunde überbevölkert. Die Straßen sind drekkig, und es gibt kaum Sehenswürdigkeiten. Aber Belgrad ist mein Zuhause. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Obwohl wir Belgrader seit Beginn des Krieges auf dem Balkan zu Beginn der neunziger Jahre allerlei durchgemacht haben und Tausende von Flüchtlingen hier Zuflucht fanden, konnte sich keiner von uns vorstellen, daß eines Tages Bomben auf unsere Stadt niedergehen würden.

Schon vor einiger Zeit haben die meisten von uns jungen Leuten erkannt, daß Jugoslawien uns keine Zukunft bieten kann: Hunderttausende haben inzwischen das Land Richtung Westen verlassen. Ehrlich gesagt hatte auch ich nicht vor zu bleiben. Ich malte mir aus, irgendwo auf der Welt ganz neu anzufangen. Nur die Schule wollte ich noch beenden. Alle meine Freunde und Bekannten denken so, seit sie 15 oder 16 sind. Dabei haben wir uns mit der Aussicht, ganz allein in der großen, weiten Welt dazustehen, ohne jegliche Unterstützung durch Familie und Freunde, mehr oder weniger abgefunden. Die Vorstellung, in Belgrad zu bleiben, war noch viel, viel schlimmer.

Die meiste Zeit verbrachten wir damit, uns an dieses anormale Leben zu gewöhnen. Kein Geld, keine Perspektive, keine Arbeit, niemals Gelegenheit auszuspannen. Die Grausamkeiten, die wir jahrelang vom Krieg in Kroatien und Bosnien hörten, ließen uns abstumpfen. Irgendwann konnte uns nichts mehr schocken. Den Glücklichen gelang die Flucht ins Ausland. Die anderen nahmen Drogen, wurden alkoholabhängig oder sogar kriminell. Die Welt, in der wir aufwuchsen, war voller moralischer Perversionen. Sie hat meine Generation entwurzelt.

Wir hatten gar keine Wahl: Wer sich nicht anpaßte, wurde verrückt. Uns tröstete allein die Hoffnung, das Land eines Tages verlassen zu können. Dies war der Grund, morgens überhaupt aufzustehen. Ich dachte, ich wäre tief in meinem Innern noch die alte Andjela, in einer Art Wartestellung, um normal weiterzuleben, sobald der Zeitpunkt dafür käme. Ich glaubte mich nur oberflächlich anzupassen und daß ich ihr Spiel nur mitspielte, um bis zu diesem Tag X zu überleben. Als dann die ersten Bomben auf Belgrad fielen, wußte ich, daß ich mir das alles nur eingeredet hatte. Die Tatsache, daß ich wie 78 Prozent der Belgrader nicht daran glaubte, daß die Nato Ernst machen würde, spricht für sich. Normalerweise gerate ich nicht leicht in Panik, ich bin schon ziemlich abgebrüht. Das erste Heulen der Sirenen, die den Beginn der Luftangriffe ankündigten, machte mir keine große Angst. Nur die Innenflächen meiner Hände waren ein wenig verschwitzt.

Am nächsten Morgen war offiziell der Kriegszustand erklärt. Benzin wurde rationiert, die Menschen begannen mit Hamsterkäufen. Es wurde schwierig, sich in der Stadt zu bewegen, weil der öffentliche Nahverkehr auf ein Minimum beschränkt wurde. Am dritten Tag trat ein Verdunkelungsbefehl in Kraft, und die gesamte Straßenbeleuchtung wurde ausgeschaltet. Zu der Zeit spürten wir auch die ersten Detonationen: Stöße wie bei einem leichten Erdbeben und ein oranges Licht am Nachthimmel. Wir konnten aber nicht herausfinden, woher sie kamen. Meine größte Sorge war, daß die Strom- oder Wasserversorgung abreißen könnte. Dann hätte ich nicht mehr das Internet benutzen können, außerdem hätten hygienische Probleme gedroht. Ich habe mich eine Woche vor Kriegsbeginn frisch verliebt. Das beeinflußte zugegebenermaßen meine Wahrnehmung und machte die ganze Situation durch Ausbrüche von sinnlosem Optimismus ein wenig erträglicher. Das gleiche passierte meinem Freund, was dazu führte, daß uns unsere Freunde für total verrückt erklärten. Das einzige, wovor wir Angst hatten, war, daß die Save-Brücke zerbombt werden könnte, die unsere Stadtteile verbindet. Dadurch wären wir getrennt.

Meine Freunde im Ausland begannen, E-Mails zu schicken – ich mußte sie trösten statt umgekehrt. Einige von ihnen, überwiegend Serben, die ausgewandert waren, weil sie es hier nicht mehr ausgehalten hatten, bekamen plötzlich patriotische Gefühle. Sie ermutigten uns, uns zu rächen, die Nato zur Hölle zu schicken. Wie einfach es ist, serbischer Patriot zu sein, wenn du Tausende von Kilometern entfernt bist. Offensichtlich haben sie vergessen, daß es Miloevic' Politik war, die sie zwang, ihr Glück in Neuseeland oder sonstwo zu suchen, und daß nichts von all den Dingen passiert wäre, wenn wir unsere nationalistischen Gefühle unter Kontrolle behalten hätten. Es ist nicht meine Aufgabe, die Schuldigen zu benennen. Ich bin mir bewußt, daß die Albaner im Kosovo leiden, das läßt sich weder rechtfertigen noch leugnen. Ich selbst habe an den fast drei Monate dauernden Protesten gegen Miloevic' Regime im Winter 1996/97 teilgenommen. Was dieser Mann uns allen, Serben wie Albanern, angetan hat, ist unverzeihlich. Das serbische Rechtssystem ist unter Regierungskontrolle und praktisch gelähmt. Alle unabhängigen Medien wurden verboten. Aber es ist ebensowichtig zu bemerken, welch verhängnisvollen Fehler der Westen machte, als er beschloß, Jugoslawien anzugreifen. Dieser Entschluß hat hier eine Riesenwut verursacht und Miloevic' Popularität nur gesteigert. Im Augenblick ist er stärker, als er es jemals war. Was auch immer als nächstes passiert: Er wird wohl eher als Märtyrer in die Geschichte eingehen denn als Tyrann.

Davon abgesehen weiß niemand genau, was die Nato mit ihrer Militäraktion wirklich erreichen will. Die Uneinigkeit der Allianz wird von Tag zu Tag deutlicher. Wie lange wird es noch dauern? Wie weit wird es gehen? Noch macht sich niemand ernsthaft Gedanken über eine Tomahawk-Air-Missile, die in seinem Garten landet. Was uns wirklich Angst macht, ist die neue Kriegswirklichkeit, an die wir uns gezwungenermaßen schon wieder gewöhnen. Wird es „normal“ sein, wenn wir morgen kein Wasser mehr haben? Werde ich mich daran gewöhnen, abends nicht in eine Kneipe zu gehen oder einen Film im Kino zu sehen? Einfach nur „glücklich“ sein, daß ich noch lebe? Diese armselige Vorstellung macht mir klar, wie künstlich mein Leben war, bevor die Bomben kamen. Mein Leben änderte sich, als Frieden zu Krieg wurde. Es war ein Gefühl, wie wenn ein neues Jahr beginnt und man sich erst an die neue Jahreszahl gewöhnen muß, wenn man das Datum schreibt. Bei jeder Veränderung, die dich vom zivilisierten Denken und normalem Leben abhält, schaust du zurück. Es schmerzt jedesmal, wenn du bemerkst, wie viel größer der Abstand geworden ist.

Nach meiner Meinung hat in all der Zeit nie jemand gefragt. Und auch in Zukunft wird niemand darauf Wert legen, soviel ist sicher. Ich glaube nicht an Krieg. Er erinnert mich immer an den John-Lennon-Song „Imagine“: „You may say I m a dreamer, but I m not the only one ...“ In Serbien sind nur noch wenige von uns Träumern übriggeblieben. Das Traurigste daran ist: Es interessiert gar keinen mehr, wovon wir geträumt haben.

„Die meisten von uns Jugendlichen haben erkannt, daß uns Jugoslawien keine Zukunft bieten kann““Den Glücklichen gelang die Flucht ins Ausland. Die anderen nahmen Drogen, wurden alkoholabhängig oder kriminell“

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