: Souveräne Kriegsverbrecher
Das Parlament in Kabul hat eine Amnestie für Warlords beschlossen. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer – und der internationalen Unterstützer der Karsai-Regierung
Die arrogante Selbstbegnadigung, die das von Warlords dominierte afghanische Unterhaus letzte Woche beschloss, ist ein Schlag ins Gesicht der dortigen Bevölkerung. Bei einer Befragung der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission AIHRC im Jahr 2005 hatten sich 60,5 Prozent der Gesprächspartner gegen eine Amnestie ausgesprochen. Noch mehr, über drei Viertel, äußerten, dass es ihrer Ansicht nach zu mehr Sicherheit führe, wenn Menschenrechtsverletzer vor Gericht gebracht würden.
Fast 25 Jahre lang waren die Afghanen Opfer grauenvoller Kriegsverbrechen geworden – unter drei aufeinanderfolgenden Regimen: der prokommunistischen Demokratischen Volkspartei Afghanistans (1978 bis 1992) sowie der islamistischen Mudschaheddin (1992–96) und Taliban (1996–2001). April 1980: Die Polizei des Innenministers Seyyed Mohammed Gulabsoi schießt in Kabul eine Demonstration von Schülerinnen zusammen – 50 Tote, tausende Verhaftete und Gefolterte. April 1992: General Dostums Usbeken-Miliz, genannt die „Teppichräuber“, zieht plündernd und vergewaltigend durch die afghanische Hauptstadt. August 1992: Hekmatjars Mudschaheddin beschießen Wohnviertel in Kabul, binnen zwei Wochen sterben 1.800 Menschen. Februar 1993: Kämpfer Massuds, Fahims und Sayyafs massakrieren die Einwohner des Schiitenviertels Taimani; die Angreifer hätten „gar nicht mehr genau hingesehen, was sie erschossen: Männer, Kinder, Frauen, sogar Ziegen und Hunde“, berichtet ein Augenzeuge. Frühjahr 1993: Schiitische Milizionäre unter Karim Khalili zerren in Westkabul willkürlich Paschtunen aus öffentlichen Verkehrsmitteln, nehmen sie als Geiseln, viele werden getötet. Januar 2001: Taliban schlagen im zentralafghanischen Yakaolang einen Aufstand nieder, massakrieren die Einwohner und brennen das Städtchen nieder.
Das sind nur einige Beispiele aus einer schier unendlichen Kette von Verbrechen. All dies ist relativ gut dokumentiert, von Human Rights Watch, dem Afghanistan Justice Project und der AIHRC selbst. Aber nie – bis auf wenige Ausnahmen in Großbritannien und den Niederlanden – wurde dies bis zu Gerichtsverfahren vorangetrieben.
Auch wenn der Parlamentsbeschluss, offiziell als „Charta für nationale Versöhnung“ bezeichnet, keinen bindenden Charakter zu tragen scheint: Er ist auch ein Schlag ins Gesicht der internationalen Unterstützer der Karsai-Regierung. Stellvertretend für die afghanischen Menschenrechtler, die sich kaum öffentlich zu äußern wagen, hatten sie jahrelang darauf gedrungen, dass in Afghanistan eine Diskussion über den Umgang mit der blutigen Vergangenheit beginnt. Ein von der AIHRC entworfener „Aktionsplan für Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit“ wurde vor allem nach Einwänden der Regierung – zu deren Hauptberatern einige Warlords gehören – immer wieder überarbeitet, bis er niemandem unmittelbar wehtat. Im Dezember setzte Präsident Karsai ihn endlich in Kraft. Der Plan sollte zur öffentlichen Debatte stellen, ob eine Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild eingerichtet werden solle oder Kriegsverbrechertribunale. Eine Amnestie schließt er explizit aus.
Vor allem die Opfer sollten in die Lage versetzen werden, sich eine Meinung zu bilden. Immerhin gaben 69 Prozent der befragten Afghanen an, dass sie selbst oder nahe Familienangehörige in den vergangenen 25 Jahren von solchen Verbrechen betroffen gewesen seien, jeder Fünfte sogar unter allen drei Regimen. Doch noch haben sich die Opfer nicht organisiert, bleiben mit ihren traumatischen Erfahrungen allein. Von wenigen Konferenzen abgesehen – die immerhin sehr gut besucht waren und während deren sich interessante Debatten ergaben – gibt es bisher keinerlei offene und öffentliche Debatte.
Zudem fand der Aktionsplan Aufnahme in den „Afghanistan Compact“, den die Kabuler Regierung und ihre Unterstützer im Dezember 2005 in London unterzeichneten – ein Dokument, das sogenannte Benchmarks festsetzt, die beide Seiten beim physischen und institutionellen Wiederaufbau des Landes einzuhalten haben. Wer will, kann sogar eine gewisse Konditionierung für die ausländischen Hilfsleistungen herauslesen.
Doch den Gulabsois, Sayyafs und Fahims – inzwischen als Abgeordnete ins Parlament eingezogen – war selbst das zu viel. Mit ihrem gesetzgeberischen preemptive strike versuchen sie nun, eine Diskussion abzuwürgen, bevor sie überhaupt begonnen hat. Dabei treten sie in die unwürdigen Fußspuren der chilenischen, argentinischen und uruguayischen Foltergeneräle. Nun darf man gespannt sein, wie die Regierungen der Geberländer darauf reagieren. Im Gegensatz zu den Afghanen selbst hatten sie immer argumentiert, dass eine zu schnelle Strafverfolgung nur die innerafghanische Stabilität gefährden würde.
Es sei besser, wenn die Mudschaheddinführer trotz aller Verbrechen in den Friedensprozess einbezogen würden. Deshalb legte man wenig Nachdruck sowohl in die Entwaffnung und Auflösung der Milizen als auch in die Vorabprüfung der Kandidaten für die Parlamentswahlen 2005 – u. a. auf die Beteiligung an Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen –, wie vom Bonner Afghanistan-Abkommen, vom Afghanistan Compact und selbst nach afghanischer Gesetzeslage eigentlich vorgesehen war. Folge: Das internationale Gütesiegel „free and fair“ für die Wahlen blieb aus.
Die Einbindung von Kriegsverbrechern in die neuen demokratischen Institutionen Afghanistans nimmt diesen ihre Legitimität – zumindest in den Augen der Afghanen. Denn trotz aller Mängel behandeln ihre ausländischen Unterstützer sie als völlig „souverän“. Damit haben sie sich selbst in eine Sackgasse manövriert. Nun dürfte es ihnen schwerfallen, diese angeblich legitimen Institutionen für ihre „souveräne“ Entscheidung in Sachen „Versöhnung“ in Frage zu stellen, obwohl sie eindeutig internationale Abmachungen brechen.
Wenn in Afghanistan derzeit tatsächlich jemand Souveränität genießt, dann die größtenteils islamistischen Warlords. Weiterhin bewaffnet und auf erhebliche Drogen- und andere illegitime Einnahmen gestützt, sind sie gegen äußere Einmischung inzwischen ziemlich immun. Ein Abbau von Menschenrechtsstandards – und von demokratischen Normen insgesamt – könnte die Folge sein. Diese Drift hat bereits begonnen, wie das Rollback in der Medienfreiheit nach der Amtsübernahme eines islamistischen Ministers zeigt. Dagegen, so befürchten afghanische Politiker, könnte bald sogar die Taliban-Gefahr verblassen. Die afghanische Öffentlichkeit indes wird einen Grund mehr haben, sich zu fragen, auf wessen Seite Karsai und seine ausländischen Unterstützer eigentlich stehen.
Immerhin gibt die Parallele zu Lateinamerika auch etwas Hoffnung. Wenn auch erst nach Jahrzehnten, wurden dort ähnlich schamvolle Gesetze unter demokratisierten Umständen wieder aufgehoben und Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen.
THOMAS RUTTIG
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