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„Grundrechtsverstöße müssen teuer werden“

Der Ex-Verfassungsrichter Kühling fordert, dass Opfer von Grundrechtsverletzungen auf hohe Schmerzensgelder klagen

KARLSRUHE taz ■ „Die Kooperation der staatlichen Stellen mit dem Bundesverfassungsgericht lässt zu wünschen übrig“, klagte gestern der ehemalige Verfassungsrichter Jürgen Kühling. Immer wieder missachte die Polizei, aber auch der Gesetzgeber die Rechtsprechung des Gerichts, sagte er bei der Vorstellung des Grundrechtereports 2007.

So müsse Karlsruhe immer wieder rechtswidrige polizeiliche Hausdurchsuchungen beanstanden. „Man hat den Eindruck, die Arbeit des Verfassungsgerichts verhallt“, kritisierte Kühling. Der frühere Richter schlug deshalb eine neue bürgerrechtliche Strategie vor. Bei Grundrechtsverletzungen sollten hohe Schmerzensgelder eingeklagt werden. „Wenn eine Maßnahme für rechtswidrig erklärt wird, ist das der Polizei egal, aber wenn es für den Staat richtig teuer wird, dann wird die Polizei vielleicht vorsichtiger.“

Kühling beschrieb den Fall einer Rechtsanwältin, die als unbeteiligte Passantin auf einer Hamburger Einkaufsstraße in einen Polizeikessel geriet und anschließend mehrere Stunden gefesselt durch die Stadt gefahren wurde. Ein Verwaltungsgericht stellte die Rechtswidrigkeit der Maßnahme fest, doch das Landgericht billigte nur 150 Euro Schmerzensgeld zu. Vor dem Oberlandesgericht erstritt die Anwältin immerhin 500 Euro Entschädigung, doch Kühling hält auch das für lächerlich gering. Für solche demütigenden Exzesse müssten mehrere tausend Euro eingeklagt werden können, „dann klagen auch mehr Betroffene, und dann wird es richtig teuer für den Staat“.

Der Grundrechtereport ist ein Gemeinschaftswerk von neun Bürgerrechtsorganisationen, von der Humanistischen Union (HU) bis zu Pro Asyl. Zum elften Mal haben die Herausgeber dieses auch im Buchhandel erhältlichen Taschenbuch zu einen alternativen Verfassungsschutzbericht zusammengestellt. Darin werden nicht extremistische Bürger, sondern die Fehler des Staates angeprangert.

Der Sozialwissenschaftler Peter Grottian kritisierte gestern den Verfassungsschutz, der jahrelang das Berliner Sozialforum bespitzelte. Auch über ihn als Professor sei eine 80 Seiten dicke Akte angelegt worden, weil er Kontakt zu Autonomen hatte. „Ähnlich funktioniert heute die Stigmatisierung der G-8-Gegner“, sagte Grottian. Wer irgendeinen Kontakt zu radikalen Kreisen habe – „beim Mittagessen, im Bett oder bei strategischen Diskussionen“ –, müsse mit Bespitzelung rechnen. „Das Selbstvertrauen der Herrschenden ist jämmerlich“, stellte Grottian fest und forderte die Abschaffung des Verfassungsschutzes oder zumindest seine finanzielle Austrocknung.

Geschildert wird im Grundrechtereport auch der heikle Fall einer Berliner Muslimin, die im Internet ein Selbstmordattentat diskutiert haben soll. Sie wurde fortan von Polizisten beschattet, die ihr teilweise in einem Meter Entfernung folgten. Ständig wurde sie intensiven Leibesvisitationen unterzogen. „Polizei-Stalking“ nennt dies Jürgen Kühling, der heute als Anwalt arbeitet. „Eine Beschattung darf nicht wie eine bloße Einschüchterung wirken.“ CHRISTIAN RATH

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