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Libanons falsche Helden

In den palästinensischen Flüchtlingslagern machen radikale Islamisten den altgedienten nationalistischen Fraktionen Konkurrenz

ULTIMATUM AN FATAH AL-ISLAM

Der libanesische Ministerpräsident Fuad Siniora hat einen entschlossenen Kampf gegen die islamischen Extremisten im Norden des Landes angekündigt. Siniora erklärte gestern in einer Fernsehansprache, die Fatah al-Islam sei eine terroristische Organisation und versuche, aus dem Leid des palästinensischen Volkes Profit zu ziehen. Gleichzeitig sicherte der Regierungschef zu, die Zivilbevölkerung im Flüchtlingslager Nahr al-Bared zu schonen. Einen Tag zuvor hatte Verteidigungsminister Elias Murr den Kämpfern der Fatah al-Islam ein Ultimatum gestellt. Sie müssten sich ergeben oder mit einem militärischen Angriff rechnen. Die Fatah al-Islam verkündete, sie werde nicht aufgeben und jeden Angriff zurückschlagen. Libanesische Truppen versenkten zwei Schlauchboote mit militanten Islamisten, die über das Mittelmeer aus dem belagerten Camp fliehen wollten. Die Waffenruhe in dem Gebiet hatte gestern weiter Bestand. Am Rande des Lagers waren nur vereinzelt Schüsse zu hören, während weitere Bewohner unter den Augen der Soldaten das Lager verließen. Die UNO appellierte an die Konfliktparteien, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen einen Zugang zu dem Lager zu garantieren. Nach Schätzungen ist die Hälfte der 31.000 Bewohner aus Nahr al-Bared geflohen. AP

AUS BURJ AL-BARAJNEH KARIM EL-GAWHARY

Freizeittreffpunkt ist der Friedhof. Hier kommen Kinder und Jugendliche am Nachmittag zusammen, wenn die Hitze im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut ein wenig nachlässt. Die Stätte des Todes ist der einzige Ort, an dem im Palästinenserlager Burj al-Barajneh Sonne und Wind zu spüren sind. Nur hier kann man den Blick jenseits des engen und dunklen Gassengewirrs etwas in die Ferne schweifen lassen. Die Teenager rauchen und unterhalten sich, die Kinder suchen die Maulbeerbäume zwischen den Gräbern nach Früchten ab. „Unseren Lagerpark“, nennen sie den Friedhof.

Der Rest des Lagers besteht aus einem Netz von engen Gassen, in denen die Schubkarre zwangsweise als einziges Transportmittel fungiert. Die verschachtelten zwei- bis dreistöckigen Häuser zeugen von massiver Raumnot. Ein abenteuerliches Wirrwarr aus mit Isolierbändern zusammengehaltenen Stromkabeln spannt sich über die Köpfe der Passanten und lässt es wie ein Wunder erscheinen, dass in den Wohnungen die Fernseher laufen. Die sind bei den offenen Fenstern nicht zu überhören. Es laufen die Nachrichten aus dem Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Norden des Landes, aus dem die Menschen fliehen, um den Kämpfen zwischen der libanesischen Armee und der radikalislamistischen Gruppe Fatah al-Islam zu entkommen.

Auch Umm Muhammad verfolgt die Nachrichten, während sie einen Salat für das Mittagessen vorbereitet. „Es macht mich einfach wütend zu sehen, wie die Armee mit Panzern in das Lager schießt und die Einwohner unschuldig zu Zielscheiben werden“, sagt sie, die keinerlei Sympathie für Fatah al-Islam hegt. Sie lädt zum Tee ins Wohnzimmer. Als Schmuck steht ein bunter Plastikblumenstrauß in der Ecke neben dem Sofa, die einzige Pflanzenpracht, die in der Dunkelheit gedeiht. „Wir haben hier nichts, meine Söhne haben keine Arbeit, alles ist so beengt, und das Wasser, das aus dem Hahn kommt, ist so salzig, dass kein Shampoo und kein Spülmittel schäumt, Trinken können wir das sowieso nicht“, schimpft sie, als plötzlich das Licht ausgeht. Wieder einmal Stromausfall.

Jussuf Badr, der Chef des Volkskomitees, wie die Lagerverwaltungen genannt werden, fasst das Elend in nüchterne Zahlen. Die 20.000 Bewohner Burj al-Barajnehs leben auf weniger als einem Quadratkilometer. Über 60 Prozent leben unter der Armutsgrenze von 120 Dollar im Monat. Nur etwa vier Prozent hätten eine feste Anstellung, der Rest arbeite als Tagelöhner auf dem Bau oder sei ganz ohne Arbeit.

Das ist das Ergebnis einer brutalen libanesischen Ausgrenzungspolitik. Die Ausübung von mehr als 70 Berufen ist den Palästinensern als „Ausländern“ auch nach mehr als 50 Jahren Anwesenheit im Land untersagt. Als „beschämend“ bezeichnet amnesty international diese Politik, die die über 300.000 palästinensischen Flüchtlinge in den zwölf Lagern im Libanon ihrer fundamentalsten ökonomischen Menschenrechte beraube. Es ist ihnen nicht erlaubt, Grund und Boden zu besitzen, Firmen dürfen sie nur mit einem libanesischen Partner gründen. Sie haben nur begrenzten Zugang zum libanesischen Gesundheits- und Schulsystem, um das sich die UN-Organisation UNRWA in den Lagern kümmert. Die meisten Flüchtlinge stammen aus Dörfern im Norden Israels, von wo sie nach dem israelisch-arabischen Krieg und der Gründung Israels 1948 geflohen waren.

„Wir sind hier selbst für unsere Sicherheitsfragen zuständig“, greift Badr ein heikles Thema auf. In den Kairoer Verträgen von 1969 wurde der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) die alleinige Verantwortung für die Sicherheit der Lager übertragen. „Bei größeren Verbrechen überstellen wir die Verdächtigen der libanesischen Polizei“, sagt der „Bürgermeister“. Doch in den vergangenen Jahren haben sich die Lager immer mehr zu rechtsfreien Räumen entwickelt, in denen kleine PLO-Splittergruppen nur nominell für Sicherheit sorgen. Sie sind zu einem Zufluchtsort für Libanesen und Bürger anderer arabischer Länder geworden, die dem langen Arm des Staates zu entkommen suchen. Eine Nische, die auch der al-Qaida nahe stehende Gruppen ausnutzten. Besonders stark sind diese in den Lagern im Süden oder im umkämpften Nahr al-Bared im Norden des Landes. Dort sind sie inzwischen für die nationalistisch-säkularen palästinensischen Fraktionen zu einer echten Konkurrenz geworden.

Am Eingang zum Büro der „Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando“, einer der altgedienten palästinensischen Fraktionen in Burj al-Barajneh, stehen bewaffnete Posten als sichtbares Zeichen, wer zur Zeit noch den Ton angibt. Im ersten Stock sitzt Kommandant Ramiz Mustafa hinter seinem Schreibtisch und waltet über die Sicherheitsbelange des Lagers. Auch er spürt die Konkurrenz aus dem islamistischen Lager. „Natürlich suchen sich die Dschihadkämpfer unsere Lager aus, weil dort kein Staat existiert. Dann darf man sich nicht wundern, wenn die Jugendlichen, die unter diesen Umständen wie Tiere leben, in diesem Staat, der von sich behauptet, demokratisch und modern zu sein, eine leichte Beute sind“, meint er. Gruppen wie die Fatah al-Islam sind ihm schon lange ein Dorn im Auge. Inzwischen seien deren Kämpfer besser bewaffnet als alle anderen Gruppierungen, sodass es jetzt sogar für die libanesische Armee offenkundig schwer sei, gegen sie vorzugehen.

Dann lehnt sich Ramiz zurück und blickt nachdenklich auf die zugezogenen Vorhänge vor dem Fenster. „Das Tragische ist“, sagt er, „wenn die Armee noch länger blind Nahr al-Bared beschießt, dann werden die Palästinenser die Leute von Fatah al-Islam als heroische Verteidiger des Lagers ansehen.“ Ramiz muss sich mit seinem weltlichen Revolutionspathos in der Lagerszene fast wie ein Auslaufmodell vorkommen. Die neuen palästinensischen Kämpfer tragen keine Che-Guevara-Bärte, sondern getrimmte Vollbärte im Stil des Propheten. „In diesen Tagen“, murmelt der Kommandant, „werden neue falsche Helden geschaffen.“

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