Vom guten Frieden

Die Ukraine ist eine chaotische und unreife Demokratie – aber immerhin ist sie eine. Die Bevölkerung verfolgt das Schauspiel der politischen Klasse mit wachsendem Zynismus

Die ukrainischen Oligarchen würden zu viel verlieren, wenn Gewalt angewendet würde

Es war eine Mischung aus einem armseligen, patriotisch aufgeladenen Drama und einem Kabarettprogramm. In den frühen Morgenstunden des Pfingstsonntags, etwa gegen drei Uhr, erschienen der Präsident, der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident der Ukraine vor Journalisten, die in ihrer Nähe eine Nachtwache gehalten hatten, und verkündeten die Beilegung der politischen Krise. Ihre friedliche Lösung sieht vorgezogene Neuwahlen am 30. September vor. Offenbar hatte die heilige Dreifaltigkeit das ukrainische Trio erleuchtet und ihm dabei geholfen, das Land vor einer Katastrophe zu bewahren, die es selbst heraufbeschworen hatte.

Es scheint ukrainische Tradition zu werden, die brisantesten politischen Themen bis Mitternacht oder, wie es 1996 bei der Annahme der Verfassung geschah, ins Morgengrauen hinein zu verhandeln. Seit dem Mittelalter ist diese Form der Kompromisssuche – zu streiten, bis es ein Ergebnis gibt – von den Kardinälen praktiziert worden, die einen Papst wählen mussten. So ist dieser Vorgang kaum neu für Europa. Aber er ist sehr unüblich für die postsowjetische Welt, in der Gewehre immer noch ein gewichtigeres politisches Argument sind als Wahlen.

Es stimmt, dass die Ukraine bisweilen an den Rand eines blutigen Konflikts gerät. Aber die ganze Zeit sitzen die postsowjetischen Politiker, so stumpf und egoistisch sie auch sein mögen, mit ihren Rivalen an einem Tisch und treffen Abmachungen, mit denen sie hinterher alle nicht ganz zufrieden sind. Aber das ist es ja wohl, was Demokratie ausmacht.

Man mag darüber spekulieren, warum die ukrainischen Kontrahenten sich so anders verhalten als ihre postsowjetischen Brüder anderswo. Die Ursache mag in der politischen Kultur in der Ukraine liegen, die sie vor langer Zeit, in vorsowjetischer, vorrussischer Zeit ausgeprägt hat, als das Land Teil des Habsburger Reichs und der polnisch-litauischen Union war. Es mag außerdem an einer Eigentümlichkeit des ukrainischen Charakters liegen, die sich in dem Witz ausdrückt, dass „die Russen bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen und die Ukrainer bis zum ersten Tropfen“. Doch am ehesten ist der Unterschied politisch und ökonomisch zu erklären. Die ukrainischen Oligarchen, ob sie nun zum „blauen“ Lager des Premierministers Janukowitsch oder zum „orangenen“ von Präsident Juschtschenko gehören, würden zu viel verlieren, wenn die politische Instabilität die Wirtschaft behindern würde. Und sie würden noch mehr verlieren, wenn Gewalt angewendet würde und sie dafür leicht vorhersehbare internationale Sanktionen ernten würden.

So spielen sie also weiter das kindische Spiel „wer zwinkert zuerst“. Und genau so nimmt die Mehrheit der Ukrainer die internen Machtkämpfe auch wahr – in deutlichem Kontrast zu den internationalen Medien, die dazu neigen, die starken Worte der Politiker für bare Münze zu nehmen.

Seit dem 2. April, als Präsident Wiktor Juschtschenko mit seinem umstrittenen Erlass das Parlament auflöste und Neuwahlen anordnete, verfolgten die Ukrainer den eskalierenden Konflikt zwischen den beteiligten Figuren eher mit Vorsicht. Ihr Interesse machte mehr den Anschein, als würden sie einer Seifenoper zuschauen, als dass sie die Ereignisse mit tiefer persönlicher Anteilnahme verfolgt hätten, wie das während der orangenen Revolution der Fall war.

Was auch immer die Politiker über eine „Krise“, einen „Putsch“ oder „Verrat“ sagten – die ukrainische Wirtschaft wuchs monatlich um ein Prozent, die Durchschnittsgehälter haben sich innerhalb einiger Jahre verdreifacht, und die Massenmedien sind pluralistisch genug, um die eigentlichen Absichten der beteiligten Parteien abzubilden.

Mykola Rjabtschuk, Jahrgang 1953, ist Journalist, Schriftsteller und Mitbegründer der Monatszeitschrift „Krytyka“. Sein Buch „Die reale und die imaginierte Ukraine“ ist im vergangenen Herbst bei Suhrkamp erschienen. Er lebt in Kiew.

Damit enden dann allerdings die guten Nachrichten aus der Ukraine. Kommen wir zu den schlechten: Die Kehrseite der skeptischen Haltung gegenüber der Politik sind Politikverdrossenheit und Zynismus. Es mag heute schwierig, ja beinahe unmöglich sein, die Bevölkerung für etwas Schlechtes wie einen Bürgerkrieg zu mobilisieren. Aber es ist ebenso schwierig, sie für etwas Gutes zu gewinnen, wie den Aufbau der Demokratie. Sie hat eine klare Entscheidung für einen schlechten Frieden und gegen einen guten Krieg getroffen, aber sie hat die Aussicht auf einen guten Frieden aus dem Blick verloren.

Guter Friede, das meint in diesem Fall eine tief greifende Reform der staatlichen Institutionen, die die Ukraine von der Sowjetunion geerbt hat. Sie waren eher Dekoration und spielten gegenüber der Kommunistischen Partei eine untergeordnete Rolle. Die Partei war die wahre Macht im Staat. Als sie ausfiel, wurde überdeutlich, dass die überholten Institutionen nicht funktionierten. Mitte der 90er-Jahre machte der damalige Präsident Leonid Kutschma sie wieder handlungsfähig, doch er reformierte sie nicht. Er ersetzte lediglich die Kommunistische Partei durch andere Machtmechanismen. Er formte den Erpresserstaat, in dem er mittels eines ausgeklügelten Systems regierte: Die Regierung sammelte „Kompromat“ – kompromittierendes Material – gegen jedermann, die Justiz agierte willkürlich gegen missliebige Subjekte. Die Führer der orangenen Revolution setzten dieses System außer Kraft, aber sie bauten kein neues auf. Wieder wurde offenbar, dass die Institutionen aus der Sowjetzeit nicht funktionierten und die junge ukrainische Demokratie bedrohten.

Weil weitreichende Reformen ausblieben, musste die institutionelle Leerstelle gefüllt werden – und die neosowjetische, autoritäre Partei der Regionen, geführt von Wiktor Janukowitsch, kam nach den Parlamentswahlen von 2006 wieder an die Macht. Doch musste sie die Macht mit einem Präsidenten teilen, der sich nicht mit Kutschmas Erpresserstaat gemein gemacht hatte und sich Janukowitschs Versuchen, die ganze Macht an sich zu reißen und Kutschmas Herrschaftssystem wieder zu errichten, eisern widersetzte.

Die Krise wurde unvermeidlich. Auf der einen Seite entwickelte die Ukraine demokratische Strukturen mit Gewaltenteilung. Auf der anderen Seite erwies sie sich als äußerst anfällig ohne effizient funktionierende Institutionen, die die Gewaltenteilung klar und unmissverständlich garantieren könnten.

Demzufolge ist die politische Einigung, die die Kontrahenten kürzlich gefunden haben, nur dann von Bedeutung, wenn sie sich jetzt zu weitreichenden institutionellen Reformen durchringen, vor allem der Justiz. Das demokratische System muss funktionieren, ungeachtet dessen, wer an der Macht ist und wer in der Opposition. Sonst wird die Ukraine von Krise zu Krise schlittern, bis die politische Klasse endlich versteht, dass in diesem Land niemand je wieder die ganze Macht erringen wird. Und dass die ständigen Pattsituationen und Blockaden des politischen Systems nur zu vermeiden sind, wenn unumstößliche Regeln für die Teilung und Kontrolle der Macht für alle gelten.

Die „orangenen“ Führer setzten das System des Erpresserstaats außer Kraft, aber sie bauten kein neues auf

MYKOLA RJABTSCHUK

Aus dem Englischen von Heike Holdinghausen