: Herzen haben keine Fenster
THEATER „Tessa Blomstedt gibt nicht auf“ heißt Christoph Marthalers jüngster Streich in der Berliner Volksbühne. Darin geht es um Liebe in Zeiten des Internets und Udo Jürgens
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Was aus der Liebe in Zeiten des Internets wird, beschäftigt das Theater nun schon eine Weile. In Berlin versuchte vor 14 Tagen der niederländische Theatermacher Dries Verhoeven ganz nah ranzubeamen an die digital vermittelte Wirklichkeit und seine Chats mit Männern zur Anbahnung von Treffen öffentlich mitlesen zu lassen. Nach wenigen Tagen brach das Hebbeltheater das Projekt ab. Zu viele Proteste hatte es gegeben. Leute, die mit Verhoeven chatteten, sahen sich plötzlich dem grellen Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt und sahen den Datenschutz verletzt.
Das könnte dem Regisseur Christoph Marthaler nicht passieren. Zwar liest man auch in seiner jüngsten Inszenierung, „Tessa Blomstedt gibt nicht auf. Ein Testsiegerportal“, in der Berliner Volksbühne auf großer Leinwand gelegentlich einen Chat mit. Aber was sich X und Y schreiben, sieht verdächtig nach den Songzeilen der ausführlich zitierten Schlager – etwa von Udo Jürgens, Baccara oder Elfie Graf – aus. Oder es ist schönster Nonsens wie „du schlägst mich mit einer Blume“, während Irm Hermann auf der Bühne mit einem nassen Lappen auf die Blätter ihrer Grünpflanzen schlägt. So viel zum Thema „ausschweifende Fantasien ausleben“.
Tatsächlich blickt aber auch Marthaler auf das Geschehen von computervermittelten Erstkontakten, von 95 Euro Monatsbeitrag und „Jetzt installieren“-Aufforderungen mit der Gelassenheit von jemand, der gar nicht vorgeben will, er kenne sich in dieser Welt aus. Sein Vergnügen und bald auch das des Publikums ist das Ausspielen des Befremdens über die seltsamen Rituale dort. Für Marthaler steckt in der digitalen Welt ungefähr so viel Zukunft wie in der Wiederholung einer Folge von „Raumschiff Enterprise“.
Kein Wunder, dass eine Figur des Abends „Ein Retrovirus“ heißt, verkörpert von Ulrich Voß im roten Jackett mit dem souveränen Charme eines Showmasters aus den Anfängen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Mehrere Reden hält er an diesem Abend, mal als Mitglied einer Familie von Viren, die Zeit und Speicherdaten stiehlt; mal als Ratgeber für den Mann, wie man sein Leben so spannend gestaltet, dass eine Frau es interessant finden kann. Das ist von erschreckender Banalität, und doch auch erschreckend ernst und echt, weicht die Wirklichkeit doch selten von diesen Checklisten ab. Trotzdem lacht man die ganze Zeit.
Und man lacht auch, wenn Irm Hermann einer Stimme aus dem Off mitteilt, dass die Zeiten analoger Floristik vorbei seien. Eigentlich ist es ein Befehl, die digitale Floristik ist beschlossene Sache, die von Irm Hermann gespielte Figur, auf der Besetzungsliste als Platzhalter namens N.N. ausgewiesen, hat dafür 1,5 Hektobyte zur Verfügung zu stellen. Sie verzweifelt darüber, noch mit Blumentopf und Sprühflasche in der Hand.
Neben ihr agiert der Chor von Kekke, Frauke, Heike, Silke und Helfried, der auch alle Tasteninstrumente bespielt. Teils verkörpern sie User, teils Agenten von Datingportalen, mechanisiert in Stimme und Ausdruck – ein Stilelement, das Marthaler schon oft genutzt hat, jetzt aber mit absurden Dialogen über die Onlinewelt zuspitzt. Je mehr sie an der Individualität ihrer Profile feilen, desto ähnlicher werden sie sich. Das ist zwar keine überraschende Erkenntnis mehr, aber liebevoll dargeboten.
Bleibt die Frage, warum den Abend über so viele Herzschmerzschlager nicht nur gesungen, sondern auch mit unterschiedlichen Diktionen, wie dem Pathos klassischer Dramatik, am Mikro vorgetragen werden. Und warum man das immer gleich so witzig findet? Ginge es nur um Parodie der dort hochgehängten Gefühle, so what, die Schlager sind längst passé. Hat Marthaler bei der Arbeit am Abend zu oft Features über Udo Jürgens 80. Geburtstag gehört? Reicht als Grund nicht. Aber man kann sich zurechtkonstruieren, dass die Lyrik der Lieder ebenso einem ähnlichen Mangel an lebbaren Gefühlen entstammt wie die Nutzungsregeln für Datingportale. Es sind nur zwei historische Schichten eines Verlangens. Bei aller Verzweiflung an der Gegenwart, kulturpessimistisch ist das Stück nicht. Denn früher war es auch nicht besser.