: Bringfriedes Erbe: das ungeliebte Kind
■ Im Wintersemester müssen die ersten Lehramtsstudierenden ins Praxissemster an die Schulen / Die wollen sie nicht und die Studierden wissen nicht, wie sie es finanzieren sollen
Was haben Boris Becker und Bildungssenator Willi Lemke gemeinsam? Sie behaupten, das illegitime Kind nicht gezeugt zu haben. „Die Lehrerprüfungsordnung ist nicht mein Kind“ wiederholte Lemke gestern mehrfach auf der Podiumsdiskussion mit 200 wütenden Lehramtsstudierenden. GEW und AStA hatten den Senator eingeladen, um über Sinn und Unsinn des in der LPO festgelegten Halbjahrespraktikum nach der Zwischenprüfung zu diskutieren. Dieses Wintersemester müssen die ersten Studierenden nach der schulpraktischen Richtlinie ein halbes Jahr pro Woche 20 Stunden in der Schule verbringen, um den gesamten Schulalltag kennzulernen. Unterrichten sollen sie in ihren beiden Fächern in dem halben Jahr gerade acht Stunden.
Die Kopfgeburt aus dem Jahre 1999 von Bringfriede Kahrs will niemand haben. Die Studierenden nicht, weil ein Großteil neben Schule und vier Semesterwochenstunden an der Uni noch jobben muss. Die LehrerInnen bocken, weil sie nicht ausreichend Entlastungsstunden für die Studierenden-Betreung bekommen. Bisher haben 18 Schulen beschlossen, die Betreuung zu verweigern, auch wenn Lemke noch so oft den Studierenden zuruft: „Die freuen sich auf euch!“ Der GEW-Landesvorsitzende Jürgen Burger rechnet vor, dass die Bremer LehrerInnen im Bundesdurchschnitt 1,6 Stunden pro Woche mehr arbeiten und mindestens 24 Stellen bräuchten, damit die Studierenden qualifiziert begleitet werden können und nicht einfach nur irgendwie in der Schule rumhängen. Angebot von Lemke: drei Stellen.
Dabei hatte die Universität seinerzeit im Tauziehen mit der Bildungsbehörde der LPO nur unter der Voraussetzung zugestimmt, dass zwölf Stellen zur Betreuung vor Ort zur Verfügung stehen, sagt Wilfried Müller, Konrektor der Universität Bremen. Im Gegenzug wollte die Uni Mittel bis zu 200.000 Mark für die Verpflichtung von Lehrbeauftragten einsetzen, die für die Vor- und Nachbereitung des Praktikums sorgen sollten. „Die Betreuung vor Ort bezahlen wir nicht. Das machen wir auch nicht, wenn Studierenden in Unternehmen Praxissemester absolvieren“, stellt Müller die Dinge klar.
Lemke schiebt die Verantwortung für das umstrittene Praktikum auf seine Vorgängerin Kahrs. Anders als sonst will er in diesem Punkt für deren Sünden gerade stehen: „Wir können doch nicht mitten im Rennen die Pferde wechseln. Wir müssen doch erst einmal sehen was passiert!“ Und streicht die versprochenen 12 Stellen bis auf drei, die er nach Protesten der GEW wieder herausrückt.
Bei dem ganzen Stress um ein ungewolltes Kind stellt sich die Frage, warum es überhaupt gezeugt wurde. Lemke findet wieder und wieder nur ein Argument: Die Studierenden brauchen mehr Praxis, damit sie wissen, worauf sie sich einlassen. Gegen Praxis hat niemand etwas einzuwenden. In diesem Punkt sei die LehrerInnenausbildung reformbedürftig, bestätigt Konrektor Müller. Er sei allerdings ein „Anhänger einer ausgebauten alten Lösung“, sprich der Erweiterung der bisherigen zwei jeweils dreiwöchigen Unterrichtseinheiten, die in ein Projekt eingebunden sein sollten. Müller räumt ein, dass das vonseiten der HochschullehrerInnen unterschiedlich gut wahrgenommen worden sei. Dennoch sieht er hier die Verbindung von Theorie und Praxis gewährleistet.
Wolfram Sailer, Lehrer an der Gesamtschule Mitte sowie Lehrbeauftragter an der Uni findet es grundsätzlich nicht verkehrt, den Studierenden Einblicke in die Praxis zu ermöglichen, bevor sie nach mindestens fünf Jahren Uni feststellen, dass Schule nicht ihr Ding ist, andere Berufswege aber kaum vorhanden sind. Aber. Praxis erst nach der Zwischenprüfung käme zu spät. Und: „Was soll denn so ein Praxisschock, wenn sie gar nicht aufarbeiten können, was das Schockierende an der Praxis ist?“ Sinnvoll findet er stattdessen Projekte wie das des Universitätsprofessors Reiner Ubbelohde, der als Lehrer an der Gesamtschule Mitte den Überblick über sein Fachgebiet behält. In Zusammenarbeit mit zwei Schulen hätten Studierende hier die Möglichkeit in einem dreisemestrigen Projekt Schule kennzulernen, so wie es sich Lemke vorstellt. Ein Drittel der Lehramtsstudierenden können übrigens nach der alten LPO in Projekten studieren, erklärt Müller. Dabei handele es sich um die Primarstufe, Englisch- und Französisch und den berufsbildenden Zweig. Eine andere Alternative wird vom GEW-Vorsitzenden Burger ins Rennen geschickt: Ein Praxissemester mit einem ganzen Tag in der Schule. Schließlich ginge es nicht um viel Praxis, sondern um gute Praxis.
Willi Lemke sperrt sich allen Argumenten und möchte lieber darüber reden, wie toll die Bremer Lehrerausbildung sei und dass die Studierenden doch von allen gewollt werden wegen der nächsten Pensionierungswelle. „Wir werden hier demnächst mit dem Lasso durch die Lande reiten, um sie einzufangen“, bemüht er sich um Volkes Gunst Das mauert genauso wie er und möchte endlich eine Antwort darauf, wo sie denn hingehen sollen, wenn sie niemand will und wo die tolle Ausbildung herkommen soll, wenn alle Beteiligten mit dieser zutiefst unglücklich sind. ei
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen