: Das Ende des Anfangs von Rot-Grün
Die autoritäre Technokratenpolitik Gerhard Schröders ist gescheitert. Ein Auslaufmodell ist Rot-Grün deshalb nicht – vorausgesetzt, die beiden Parteien lernen aus ihren Fehlern
Es steht miserabel für Rot-Grün. Alles spricht dagegen, dass es diese Regierung am 19. September noch geben wird. Der Machtkitt, der die ratlose Regierung noch zusammenhielt, zerbröselt. Kurt Beck und Sigmar Gabriel (nicht zufällig Provinzfürsten, die sich für die Post-Schröder-Zeit etwas ausrechnen) prügeln probehalber auf die Grünen ein, die seit Schröders Coup etwas verloren wirken. Dem Publikum leuchtet das ad hoc ein: Du warst schuld – so klingt es immer, wenn Beziehungen zerbrechen.
So scheint es. Aber wie sieht dieses Ende von Rot-Grün genau besehen aus? Ist es ein Ende für immer? War Rot-Grün ein historischer Irrläufer? Eine Art-Post-Kohl-Zwischenspiel? Eine Anomalie in einer Republik, die im Normalfall eben von Konservativen regiert wird?
Auffällig ist, dass die gegenseitigen Vorwürfe bei Rot-Grün ziemlich kontrolliert wirken. Ein paar verbale Rempeleien – aber nichts von der Panik, die oft ausbricht, wenn die Macht verschwindet. Rot-Grün befindet sich in einer Krise, ohne sich politisch uneinig zu sein. Deshalb klingen Sigmar Gabriels und Kurt Becks Angriffe auf die Grünen („unzuverlässig“, „Arbeitsplatzvernichter“) auch, als wären sie aus der Mottenkiste der Union entwendet. Man muss sich schon ziemlich anstrengen, um einen Grund zu finden, um sich zu streiten. Auch der oft zitierte Vergleich mit 1982 trifft nicht zu. Damals zerbrach die SPD/FDP-Koalition, weil die sozialliberalen Reformen der 70er-Jahre nicht mehr vereinten und das Kommende trennte: Die FDP wurde in der Krise neoliberaler, die Schmidt-SPD hielt am Keynesianismus der 70er-Jahre fest. Heute trennt SPD und Grüne nicht Vergleichbares.
Die rot-grünen Kämpfe spiegeln also rational verschiedene Interessen. Die Grünen, die von einem stabilen Milieu getragen werden und eben kein auslaufendes Post-68er-Generationsprojekt sind, werden im nächsten Bundestag Oppositionspartei sein. Sie werden daher einen doppelten Wahlkampf machen: für Rot-Grün und gleichzeitig deutlich für sich selbst – und damit auch gegen die SPD.
Die SPD hingegen wird auf eine große Koalition hoffen, schon weil sie in der Opposition in eine tiefe Depression fallen kann. Sie hat unter Schröder ein Fünftel ihrer Mitglieder verloren. Schröders Reformmachertum hat Sinnlöcher gerissen, die ab 19. September öffentlich zu besichtigen sein werden. Schon aus Überlebenswillen wird die SPD viel tun, um der Opposition zu entkommen.
Dies ist der Kern des rot-grünen Streits. Es handelt sich um eine begrenzte, kalkulierte Konfrontation – und nicht um einen fundamentalen Bruch. Denn die Milieus, die diese Regierung gestützt haben, existieren unverändert weiter. Rot-Grün ist, grob skizziert, noch immer das Bündnis von Unterschichten, Facharbeitern und bürgerlichen Mittelschichten einerseits mit dem ökoliberalen, neobürgerlichen Milieu andererseits. Diese Klientel will noch immer eine zivile, einigermaßen gerechte Republik, eine Gesellschaft, die nicht von sozialen Fliehkräften zerrissen wird und Kriege nur im äußersten Notfall riskiert. Originell ist das nicht – aber dass man mit Originalität Wahlen gewinnt, ist ein typischer Irrtum von Intellektuellen.
Kurzum: Nichts spricht dafür, dass Rot-Grün ein Auslaufmodell ist, aber viel dafür, dass diese Regierung wegen grober handwerklicher Fehler abgewählt wird. Rot-Grün hat in der zentralen Frage – Arbeitsmarkt und Sozialstaat – versagt. Das Konzept „Steuererleichterung für Reiche und Unternehmen plus Sozialstaatsreformen“ ist doppelt gescheitert. Die Steuergeschenke haben nicht mehr Jobs gebracht, und die Experimente waren von Hartz IV bis zu den 1-Euro-Jobs allesamt Flops. Wegen dieses Fiaskos, das wie Hartz IV nicht nur eine soziale Unwucht hat, sondern auch noch bürokratisch und teuer ist, wird Schröder nun zu Recht abgewählt.
Gescheitert ist zudem ein Regierungsstil, der viel Wert auf Symbolpolitik, wenig Wert auf klassisches Regieren und gar keinen auf die Stimmung im eigenen Lager legte. Die Themen Sozialstaat und Arbeitsmarkt wurden outgesourct und in die Hände von Technokratenkommissionen gelegt. Deren Ergebnisse wurden der Öffentlichkeit wie Gottesurteile kundgetan – und danach von den üblichen Lobbyisten auf halbwegs sozialkompatibles Maß gestutzt. So hat Rot-Grün „Oben geben, unten nehmen“ zur alternativlosen Devise erklärt und Sozial- und Wirtschaftspolitik zum technokratisch Notwendigen umdefiniert und entpolitisiert. Dieser defensive, zaghafte politische Stil, der Entscheidungen delegierte, stand in schrillem Gegensatz zu Schröders Machtinszenierungen als Entschlossenheitsdarsteller. Das Publikum machte diese Mixtur immer ratloser. Was soll man auch von einer Partei halten, die rhetorisch gegen „Heuschrecken“ agitiert und realpolitisch Hedgefonds steuerlich begünstigt?
Für Rot-Grün wäre aus dem Desaster zu lernen, dass man unvermeidliche Zumutungen für die eigene Klientel nicht als Trial-and-Error-Spiel inszenieren kann. Man muss schon erklären, wie oben und unten belastet werden, was den Unternehmen, was den Sozialstaatsalimentierten abverlangt wird. So wird die SPD das Nötige wieder mit Politik, mit Gerechtigkeitsideen verbinden müssen. Wenn sie mutig ist, wird sie in der wohl verdienten Opposition einen Systemwechsel nach skandinavischem Modell ins Auge fassen. Mit steuerfinanzierten Sozialsystemen fahren Gesellschaften offenbar besser als mit der schwergängigen Kopplung der Sozialsysteme an die Arbeit. Dieses bundesrepublikanische Modell war für die Ära der Vollbeschäftigung konstruiert, die nicht mehr wiederkehren wird. In hoch produktiven Ökonomien, die immer neue Rationalisierungsschübe hervorbringen, ist es widersinnig, die Sozialsysteme an Arbeit zu ketten. Auch mit Blick auf die demografisch bedingte Verschärfung der Lage in der Rentenkasse spricht einiges dafür, die fatalen Rückkopplungen von Arbeitslosigkeit und überforderten Sozialsystemen zu unterbrechen.
Chancen hat Rot-Grün schließlich auch, weil Schwarz-Gelb wackliger ist, als es momentan scheint. Laut Umfragen votieren zwar über 50 Prozent für Schwarz-Gelb, aber gleichzeitig glauben mehr als zwei Drittel nicht, dass es Schwarz-Gelb viel besser machen wird. Man wählt den Wechsel, ohne daran zu glauben. Zudem ist das Publikum in postideologischen Zeiten zu ungeduldig, um wie früher Figuren wie Adenauer oder Kohl eineinhalb Jahrzehnte zu ertragen. Die strukturelle konservative Mehrheit, die es zeitweise in der alten Bundesrepublik gab, wird kaum wiederkehren.
Mit der Kopfpauschale wird Merkel das Hartz-IV-Desaster noch übertreffen. Ihre Gesundheitsreform verspricht ein Reformmonstrum zu werden, das soziale Ungerechtigkeit gleichfalls mit bürokratischem Aufwand und viel Kosten verbindet. Rot-Grün könnte schneller wieder aktuell werden, als es derzeit scheint. Wenn SPD und Grüne begreifen, warum sie jetzt verlieren werden. STEFAN REINECKE
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