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Neue alte Armut

■ „Armut im Reichtum. Erscheinungsformen, Ursachen...“

Seit Mitte der siebziger Jahre, verursacht durch eine steigende und sich verfestigende Massenarbeitslosigkeit, die einhergeht mit dem Abbau von Maßnahmen zur sozialen Sicherung, und eingebunden in eine konservativ orientierte politische Wende, „steht die Gesellschaft der BRD“, so Thomas Rommelspacher im vorliegenden Band, „vor ihrem ersten großen Verarmungsschub“. In insgesamt acht Kapiteln, wobei die ersten vier eher theoretisch-historisch orientiert sind, während sich die folgenen vier konkreten Fallbeispielen den Städten München, Hannover, Bochum und dem Stadtteil Duisburg-Bruckhausen - widmen, versuchen die Autoren allesamt seit Jahren mit der Thematik bestens vertraut - den Ursachem, den Enwicklungen und den gegenwärtigen Erscheinungsformen der „neuen Armut“ auf die Spur zu kommen sowie Handlungsstrategien vorzustellen, die sich den neuen und ungewohnten Herausforderungen stellen.

Die vier ausgewählten Städte stellen dabei „unterschiedliche Typen aktueller großstädtischer Entwicklungsprozesse unter jeweils besonderen gesellschaftlichen Modernisierungsbedingungen dar“. Für das eine Extrem steht das Ruhrgebiet, das, nachdem es lange Jahre als „Waffenschmiede“ und „Kohlenkiste“ der Nation galt, eine vor sich hin kriselnde Region, die den Anschluß an die moderne Mikroelektronik- und High-Tech-Industrie vorerst verpaßt hat. Daß innerhalb des Ruhrgebiets wiederum auf unterschiedliche Entwicklungen und Ausprägungen des gegenwärtigen Krisenprozesses zu achten ist, zeigen die beiden Beträge, die sich zum einen mit Bochum als einer für das Revier „ökonomisch und raumstrukturell typischen Ruhrgebietsgroßstadt“ und zum anderen mit dem Duisburger Stadtteil Alt-Bruckhausen beschäftigen, der mittlerweile als Elendsgebiet, „selbstorganisierte(s) Ghetto“ und somit als „vorläufige(r) Endpunkt einer regionalen Krisenentwicklung“ betrachtet werden muß.

Einen dazu völlig gegensätzlichen Eindruck vermittelt die als High-Tech-Zentrale geltende Großstadt München, die sich bis zum Ende des letzten Weltkriegs eher als typische Residenz- und Verwaltungsstadt präsentierte, als Industriestandort jedenfalls eher ein Schattendasein führte. Aufgrund einer seit Ende der vierziger Jahre politisch sehr bewußt gesteuerten Ansiedlungspolitik moderner Industrien, die mit der Entwicklung der Mikroelektronik seit den siebziger Jahren einen neuen Wachstumsschub erhielt, hat sich München zu einer in einen expandierenden Weltmarkt eingebetteten modernen Industriemetropole entwickelt. Aber gerade das Beispiel München zeigt auch überdeutlich, daß der schöne Schein wirtschaftlicher Prosperität durchaus einhergeht mit einer gleichermaßen zunehmenden Armut, die im öffentlichen Erscheinungsbild allerdings nicht so sichtbar zutage tritt wie in der altindustriellen Region Ruhrgebiet.

Eine gegenüber diesen beiden Extremen eher mittlere Position nimmt Hannover ein; zum einen kann auch Hannover auf eine längere Industrietradition zurückblicken, zum anderen hat sich in der Stadt als politischem Zentrum auch frühzeitig ein entsprechender tertiärer Wirtschaftsbereich herauskristallisiert, so daß krisenhafte Entwicklungen im Industriebereich lange Zeit aufgefangen werden konnten.

Als Indikatoren der Entwicklung zu einer die „neue Armut“ mehr oder weniger akzeptierenden „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ mit ihren spezifischen Krisenregionen, ihren teilweise bereits ausgeprägten Armutszonen und ihren in diesem Zusammenhang sich herausbildenden besonderen Subkulturen gelten insbesondere Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe, deren Entwicklung mit ihren regional unterschiedlichen Ausprägungen und Auswirkungen ein eigener Beitrag gewidmet ist.

Ohne auf die - und dies gilt besonders für das Kapitel über München - gleichermaßen detaillierten wie illustrativen Untersuchungsergebnisse im einzelnen eingehen zu können, läßt sich festhalten, daß trotz der ungleichzeitigen Entwicklungsstadien der untersuchten Regionen allerorten wachsende Tendenzen zu sozialer Ungleichheit zu beobachten sind.

In der Art und Weise des Umgangs mit jenen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt und marginalisiert werden, finden sich allerdings bezeichnende Unterschiede.

Während im Ruhrgebiet, im Kontext seines „montanindustriellen Herrschaftsbündnisses bestehend aus sozialdemokratischer Partei, sozialdemokratischem Staat, Gewerkschaften, Großindustrie und Großhandel“ und geprägt durch den spezifischen Einfluß des sozialdemokratisch -gewerkschaftlichen Milieus, „noch stärker wohlfahrtstaatliche Regulierungen vorherrschen“, werden die sozialen Probleme im Kontext „des Modernisierungsbündnisses aus High-Tech-Industrie, Hochkultur, Kirche und Staat im Freistaat Bayern“ weitgehend als persönliche Probleme angesehen und den betroffenen Individuen angelastet, nicht zuletzt „bedingt durch die erzkonservative Werthaltung der praktizierten Bündnispolitik von Staat und Wirtschaft“.

Entsprechend diesen unterschiedlichen politischen Grundhaltungen lassen sich sicherlich auch Unterschiede in der kommunalen Sozialpolitik und den jeweiligen Versuchen einer Armutsbekämpfung ausmachen. Aber analog zu der Tatsache, daß die Zunahme von Armut in allen Regionen zu einem nicht mehr hinwegzudiskutierenden Faktum geworden ist, muß man trotz aller Unterschied im einzelnen festhalten: Gegenwärtige Armutsbekämpfung ist allerorten letztlich nichts anderes als Armutsverwaltung.

Wolf Schwartz

I.Breckner / H. Heinelt / M. Krummacher / D.Oelschläger/ Th.Rommelspacher / K.M. Schmals: „Armut im Reichtum. Erscheinungsformen, Ursachen und Handlungsstrategien in ausgewählten Großstädten der Bundesrepublik“, Bochum 1989, Germinal Verlag, 334 Seiten

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