: Justine und Juliette
■ Antagonistisches Frauenbild und antagonistische Moral bei D.A.F. de Sade
Elisabeth Lenk
Nur wenige Jahre nach der Französischen Revolution schrieb Schiller seine schönen Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, die er der heute noch aktuellen Frage gewidmet hat: „Woran liegt es, daß wir immer noch Barbaren sind?“ Vor einer Erziehung im Zeichen der Schönheit versprach Schiller sich allerlei wohltätige Veränderungen, die Religion und die Sitten betreffend. Statt eines Tyrannen, eines absoluten Herrschers, müßte die allgemeine Meinung bestimmend werden, wobei den Frauen als dem schönen Geschlecht ein viel größeres Gewicht zufiele. Die finsteren Gottesdienste, in deren Mittelpunkt die Furcht stand, würden im Lichte der Aufklärung, so hofft Schiller, hell und heiter werden.
Schillers ästhetische Erziehung sollte die Menschen aus ihrer Abhängigkeit befreien. Zweckmäßigkeit und Abhängigkeit sind nicht zu trennen. Das Ästhetische aber ist zweckfrei und zeigt schon darin seine Affinität zur Freiheit. Der Barbar ist nach Schiller mit dem Wilden nicht zu verwechseln. Er ist nicht unentwickelt, sondern in die falsche Richtung entwickelt, ein bereits verdorbener, widerstrebender Stoff. Wir werden ihn bei de Sade als den Libertin wiederfinden, der seine Vernunft dem Verbrechen zur Verfügung stellt. Höchste Stupidität und höchster Verstand haben nämlich nach Schiller darin eine gewisse Ähnlichkeit, daß sie beide immer nur das Reelle suchen, während der für die Schönheit empfängliche Mensch den Schein liebt, nicht weil er ihn mit etwas Reellem verwechselt, sondern weil er Schein ist. Die ästhetische Erziehung befreit also auch, und vor allem von der Unterwerfung unter den Zweck. Die ästhetisch Gebildeten im Sinne Schillers bringen alle Fälle nicht gleich vors Gewissen, sondern lassen zuvor den Geschmack entscheiden. Sie tun das Gute, nicht weil es ihnen oder einem anderen Nutzen bringt, sondern weil es das Gute ist. Hier kommt zum ersten Mal etwas in Sicht, was dann in der Moderne wichtig werden sollte: ein ästhetisches, zweckfreies Handeln, das jedoch hier noch, getreu dem Optimismus der Aufklärung, ganz dem guten Handeln beigestellt ist, während wenig später das Ästhetische sich vom Ethischen emanzipiert. Als wäre ihm eine solche diabolische Möglichkeit aufgeblitzt, um jedoch, von seinen Denkvoraussetzungen her sogleich wieder negiert zu werden, schreibt Schiller: „Zur Ehre der menschlichen Natur läßt sich annehmen, daß kein Mensch so tief sinken kann, um das Böse bloß deswegen, weil es böse ist, vorzuziehen.“
Der Marquis de Sade bleibt dieser Böse. Er lehrt eine umgekehrte Moral, die mit Schillers Überlegungen zur ästhetischen Erziehung nur gemein hat, daß auch sie zweckfrei ist und sich obendrein auf die Natur beruft, eine ehrlose Natur allerdings: Unter allen Umständen Böses zu tun, auch wenn dies auf den ersten Blick den eigenen Interessen zuwider zu laufen scheint, ist heilige Pflicht im sadistischen Universum. Siebenundzwanzig Jahre seines Lebens hat dieser Zeitgenosse Schillers in Gefängnissen, Forts und zuletzt in einer Anstalt verbracht, zunächst unterm Ancien regime. Die Revolution befreite ihn, und er nahm aktiv an ihr teil; dann aber ereilte ihn sein Schicksal auch unter der Revolutionsregierung. Aus der Irrenanstalt Charenton ist er lebend nicht mehr herausgekommen. „Die Pausen in meinem Leben waren zu lang“, kommentiert de Sade trocken seinen Lebenslauf. In diesen endlosen Pausen ist er, der einstmals sorglose und ausschweifende Adelige, zum Schriftsteller geworden. Auch de Sade war Aufklärer. In jeden Winkel des menschlichen Aberglaubens wollte er die Fackel der Philosophie tragen, überall die Dunkelheit zerstreuen. Auch er liebte die Aufklärungsphilosophie, vor allem das Systeme de la Natur des Baron d'Holbach, auf das seine Libertins und Libertines sich in den endlosen Diskussionen zwischen den Orgien berufen. Auch de Sade hat, wie Schiller, eine ganz ausgeprägte Leidenschaft fürs Theater gehabt. Er hat an die achtzig Theaterstücke geschrieben, die er zunächst in seinen diversen Schlössern und dann, bis ans Ende seines Lebens, in der Anstalt Charenton selbst inszenierte. Seine Aufführungen waren berühmt und wurden sogar noch während seiner Internierung von Mitgliedern des Hofes besucht. Als habe nur die Lust am Theater ihn am Leben erhalten, starb er noch im gleichen Jahr, in dem man ihm das Theaterspiel in der Anstalt untersagte.
De Sades Theaterstücke waren ganz im sentimentalen Stil seiner Zeit gehalten und sind gerade deshalb heute so gut wie vergessen. Wenn der göttliche Marquis dennoch an Aktualität nichts eingebüßt hat, so aufgrund von Schriften, die er anonym herausgab und öffentlich nie als die seinen anerkannte. Noch nie hat ein Autor so heftig seine Urheberschaft bestritten wie er. Zu den verfemten Prosawerken, die den Autor selbst schockiert haben müssen wie wäre sonst die Heftigkeit seiner Ablehnung zu erklären?
-gehört der Doppelroman Justine und Juliette.
Ich glaube, daß es endlich an der Zeit ist, de Sade als Soziologen zu lesen, nicht als Pathologen; oder wenn als Pathologen, so als Pathologen der Macht. Daher werde ich mir im folgenden erlauben, von dem Terrain der Sexualität, auf dem das Geschehen stattfindet, zu abstrahieren, um nur das Gefüge, die strukturelle Gewalt herauszuarbeiten. Wissenschaftlich ist de Sades unersättlicher Hunger nach Erkenntnis, poetisch aber ist seine Identifikation mit den Gestalten seiner Romane, die sich letztlich als eine Identifikation mit den Opfern herausstellt, wie sie übrigens, seiner Poetik zufolge, unerläßliche Voraussetzung für literarische Qualität ist.
In seinen Noten über den Roman hat de Sade versucht, auf die „heuchlerische“ Frage zu antworten, wozu eigentlich Romane gut seien. Die Geschichte und infolgedessen auch die Geschichtsschreibung interessiere sich immer nur für diejenigen, die sich öffentlich zeigen. Was sie aber von sich sehen ließen, sei nicht die Wahrheit, sondern eine zum Vorzeigen erfundene Maske. Der gute Romancier hingegen zeige das, was die Historie verberge. Romane seien daher wahrhaftiger als die Historie, selbst wenn der Romancier sehr häufig die Phantasie zu Hilfe rufe. Grundlage der guten Romane sei das Wissen um die „Labyrinthe des menschlichen Herzens“. Wie gelangt man aber nun zu diesem unerläßlichen Wissen? De Sades Antwort ist erstaunlich genug: durch Leiden. Um die Menschen schildern zu können, müsse man Opfer gewesen sein. Noch wo er Henker darstellt, schildert de Sade sie aus der Perspektive des Opfers.
Er beschreibt eine verkehrte Welt, und auch die Sprache, in der er diese Welt beschreibt, ist ver-rückt. Die Gewalt spricht nicht, sie handelt. Sie liebt es nicht, beim Namen genannt zu werden. Im Leben tun Henker stumm ihre Pflicht. Wenn sie aber reden, reden sie nicht über das, was sie tun, sondern bedienen sich der gemäßigten Sprache des Staates. Den Tätern kommt das, was sie tun, nicht zu Bewußtsein. Sie maßen sich an, ihren Opfern entsetzliche Strafen aufzuerlegen, aber sie besitzen selbst das höchste Laster der Bewußtlosigkeit, und es gelingt ihnen nicht, sich über das, was sie getan haben, klar zu werden. De Sade leitet den katharsischen Prozeß der Bewußtwerdung ein. Er bringt die Gewalt zur Sprache. Durch den Ausdruck aber wird die Gewalt magisch in das verwandelt, was sie nicht ist. Neben dem Pokerface der Vernunft wird die häßliche Fratze Kalibans sichtbar, auf dessen Dienste sie nicht verzichten kann. Wenn er, der Stumme, anfängt zu reden, löst er Entsetzen aus.
Der Marquis de Sade war Atheist. Er stattet seine Helden und Heldinnen mit den Prinzipien einer eigenartigen Philosophie aus und wirft sie in die Gesellschaft. Er zieht die Schlußfolgerungen, die sich aus dem Weltbild der neuzeitlichen Naturwissenschaft für die Lebensführung ergeben. Die neusten Erkenntnisse der Philosophie und Naturwissenschaft wendet er aufs moralische Leben an. Wie eine Säure frißt das aufklärerische Prinzip des systematischen Zweifels alles an, was Dauer zu haben schien: nicht nur Gott, sondern auch die Tugend, nicht nur das Dogma von der heiligen Dreifaltigkeit, sondern auch die zehn Gebote. Das Ergebnis des Phantasieexperiments ist reinster Sozialdarwinismus: „La raison du plus fort est toujours la meilleure“, sagt der Duc de Blangis, einer der vier Libertins aus den Hundertzwanzig Tagen von Sodom. Wer gibt Gesetzte, wenn Gott tot ist? De Sade antwortet: die Natur. Aber es ist bei ihm nicht mehr jene sanfte Natur seiner aufgeklärten Zeitgenossen, die, wenn sie in die Sphäre des menschlichen Handelns eintritt, automatisch Gerechtigkeit erzeugt. De Sade hat radikal die Moral des Erfolges in Frage gestellt, den Glauben an den Sieg des Guten und an die Niederlage des Bösen. Für ihn ist die Naturkraft ein blinder Mechanismus, der, wie es eben kommt, unterschiedslos gerechte und ungerechte, meist jedoch ungerechte Wirkungen zeitigt. De Sades Zeitgenossen hatten von der Natur alle negativen Seiten abgetrennt. Sie galt ihnen als eine den Menschen nützliche Macht, die wie eine Übersetzung aus dem Theologischen wirkt.
In seiner düsteren Prosa beschreibt de Sade frenetisch immer nur die Abwesenheit des Guten im Universum. Die Fatalität des Naturgesetztes setze sich in die Geschichte hinein fort. De Sade verteidigt die Verbrechen der Geschichte, ohne sie auch nur einen Augenblick zu beschönigen; darin liegt seine Originalität. Die Geschichte erscheint als ein Gewebe aus Gemeinheiten und Grausamkeiten. Die Sieger, die angeblich großen Männer der Geschichte, nennt sein Noirceuil „Verbrecher, die die Erde verpestet haben“, und der Libertin fährt in charakteristischer Weise fort: „Die Schandtaten dieser Bluthunde entsprechen genau den Wünschen der Natur.“ Das oberste, heilige Recht im sadistischen Universum ist ganz offensichtlich das des Stärkeren. In der bürgerlichen Gesellschaft sei der Stärkste nicht mehr der physisch Stärkere, lehrt Noirceuil, nicht mehr der durch Waffentaten glänzende Adelige, sondern der wohlhabende Mann. In der Vorzeit herrschte allein die physische Gewalt, doziert er weiter in anmutigem Gespräch mit Juliette, und alle Eigentumsrechte gingen letzten Endes auf diese Zeit der gewaltsamen Aneignung zurück. Heute sei es die Macht des Geldes, welche die rohe Gewalt überflügelt habe, die sie übertreffe und zeitweilig sogar ersetze. Der Reiche „hat alle Rechte aufgekauft und genießt sie jetzt nach seinen Launen, denn die andere Klasse der Menschen ist ihm untertan.“ Die Gewalt hat nach dieser Philosophie mit dem Fortschritt Schritt gehalten. Und umgekehrt stellt die Vernunft sich mit Vorliebe dem Verbrechen zur Verfügung. Sie ist es, die die herrlichsten Waffen, die raffiniertesten Foltermethoden austüftelt; ein prophetischer Blick auf die Perfektionierung rationaler Barbarei.
Die sich formierende Gesellschaft war historisch im Recht gegenüber der alten, aber de Sade beweist, auf eigene Kosten, daß sie im Absoluten ebenso unrecht hatte. In Juliette entwirft er die Parodie einer Revolution, die nicht mehr Freiheit, sondern mehr Unterdrückung bewirkt. Seine „Brüder der Loge des Nordens“ sind falsche Jakobiner: „Unsere Absicht geht dahin“, erklärt der Chef dieser Loge, „alle Throne Europas zu stürzen... Wenn wir aber dann zur Regierung kommen, werden wir eine Tyrannei ohnegleichen errichten, niemals wird das Volk in größerer Dunkelheit gehalten werden, Ströme von Blut werden fließen, auch unsere Brüder werden unsere Knechte werden, jeder freie Gedanke, jegliche Bildung wird mit Gewalt unterdrückt.“ De Sade läßt diese Brüder nach Art eines SA-Trupps rauben, brandschatzen, morden und schänden, mit Zustimmung der Regierung. „So läßt das Volk sich vom ersten besten gängeln, so wünscht es sich bald einen König, bald Revolution, je nach den Begierden dessen, der ihm das Heil vorspiegelt“, heißt die pessimistische Schlußfolgerung.
Im Phantasieexperiment hat de Sade Tendenzen des Zeitalters auskomponiert und somit Geschichte vorweggenommen. Seine Modelle können, wie Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung bewiesen haben, zu Lehrmodellen erhoben werden, an denen der Totalitarismus erklärt werden kann. Die Analogie läßt sich noch weiter treiben: Die gottähnliche Männerkaste der Libertins ähnelt den Herrenmenschen in totalitären Systemen. Sie halten sich für Menschen höherer Ordnung.
Zurück zu Justine und Juliette. Justine und Juliette sind Töchter aus gutem Hause, das jedoch in den Wirren des Ancien regime verarmte, so daß die beiden Mädchen bereits im Alter von dreizehn und vierzehn Jahren gezwungen sind, sich allein durchs Leben zu schlagen. In der Art, wie de Sade diese beiden Gestalten behandelt, werden sie zu Allegorien, die eine der Tugend, die andere des Lasters. Justine ist der Inbegriff aller weiblichen Tugenden. Neben den zynischen Libertins und ihren Komplizinnen wirkt sie wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Sie ist schön, edel, herzensgut und todunglücklich. Fiedlich gesinnt und ohne Arg, ist sie immer bereit, an das Gute in allen Menschen zu glauben, so oft sie auch enttäuscht und betrogen wird. Justines moralische Überlegenheit steht außer Frage, aber gerade dadurch wird sie zum prädestinierten Opfer. Sie wird gehaßt und gedemütigt, weil sie unschuldig ist. Gleich zu Beginn des Romans wird sie, die auch im größten Elend nie fremdes Eigentum anrühren würde, des Diebstahls bezichtigt, was einer ganzen Horde von abgeblitzten Liebhabern Gelegenheit bietet, sich an ihr zu rächen. Da die Libertins auf die einflußreichsten Ämter der Gesellschaft verteilt sind, wird ihr auch prompt der Prozeß gemacht. Sogar die Todesstrafe steht ihr bevor. Zuweilen mischt sich in solche Verwicklungen der Erzähler ein, meist in Form einer Anmerkung. Hier beispielsweise heißt es: „Einer Unglücklichen, die ohne Kredit und Protektion dasteht, wird prompt der Prozeß gemacht in einem Land, in dem man die Tugend unvereinbar glaubt mit dem Elend.“ So irrt Justine von Mißgeschick zu Mißgeschick, Spielball der Schurkerei und jeglicher Ausschweifung, einer sadistischen Rage der Blasphemie.
Das genaue Gegenstück zu Justine ist ihre Schwester Juliette. Juliette gibt sich nicht mit Weiberplackereien ab, sondern interessiert sich nur für spezifisch männliche Tätigkeiten wie Raub, Mord und Politik. Aufgrund ihrer außerordentlichen Begabung für das Laster wird sie überall in den vornehmsten Kreisen und sogar bei Hofe empfangen, natürlich auch vom Papst. Gleich zu Beginn des Romans wird ihr ein Staatsamt übertragen. Sie wird zur Leiterin der Giftabteilung ernannt. Dort bewährt sie sich derart, daß sie vom Innenminister Saint-Fond persönlich in das top secret seines Plans zur Entvölkerung Frankreichs eingeweiht wird. Um der drohenden Revolution zuvorzukommen (der Roman spielt gegen Ende des Ancien regime) plant nämlich Saint-Fond die Dezimierung der französischen Bevölkerung um zwei Drittel mittels einer Hungersnot.
Schon von seiner Konstruktion her ist unser Doppelroman ein Meisterstück des Sadismus. Nicht genug, daß Justine von Unglück zu Unglück geführt wird; am Ende ihres jungen Lebens muß sie sich auch noch den Roman Julietts, ihrer ungleichen Schwester, anhören, dies einzige Loblied auf das Laster. Als endlich die Qual, welche die Schilderung von Juliettes Großtaten für sie bedeuten muß, endet, gibt man sich nicht einmal die Mühe, sie zu töten. Die bösartigen Libertins schicken sie in ein Unwetter hinaus. „Der Blitz zuckte, der Wind heulte“, de Sade liebt solche Beschreibungen der katastrophischen Natur. Sie warten auf eine Art Gottesurteil. Und natürlich darf auch der Himmel kein Einsehen haben, weil er leer und einfach nur Teil einer Natur ist, der Tugend oder Laster gleichgültig sind, oder besser: die eher eine Affinität zum Bösen hat als zum Guten. Das Urteil wird denn auch auf wunderbare Weise zugunsten des Bösen gefällt, so will es das schwarze Märchen. Ein Blitzschlag erschlägt Justine, die gerechte. „Sie ist tot“, jubeln die Verbrecher, und an Juliette gewandt: „Sehen Sie, Madame, wie der Himmel die Tugend belohnt.“ Für Juliette hingegen gehen alle Verwicklungen des Romans am Ende glücklich aus. Sogar ihre Wertpapiere finden sich wieder.
„Justine, das ist die alte Frau“, schreibt Guillaume Apollinaire, der das Werk de Sades aus der „Hölle“ der Bibliotheque Nationale ans Licht des zwanzigsten Jahrhunderts geholt hat. „Sie ist unterworfen, elend, der elementarsten Menschlichkeit beraubt.“ Juliette hingegen wird von ihm ethusiastisch als die „neue Frau“ begrüßt, als ein Wesen, von dem man sich noch kaum eine Vorstellung machen kann: „Sie wird sich über die Menschheit erheben, sie wird Flügel haben und das Universum erneuern.“ In der Tat leiht de Sade seiner Juliette utopische Züge, aber ist nicht auch Justine in ihrer Unkorrumpierbarkeit eine utopische Gestalt? Im Schicksal der beiden Schwestern stellt de Sade seine eigene Doppelheit dar. In Juliette hat er eine Frau erfunden, die über die Grenzen des männlichen Geschlechts und über die Grenzen seiner Klasse hinausdenkt. In ihrer Angepaßtheit erscheint sie uns jedoch auch als die emanzipierte Frau in ihrer ganzen Ambivalenz. In Justine wiederum, der ewigen Verliererin, hat de Sade seine tiefe Sympathie für das Unglück zum Ausdruck gebracht. Die ausschließliche Suche nach dem Glück, säkularisierte Religion des Jahrhunderts, führt zum Haß auf das Unglück. Die Behauptung, daß die neue Gesellschaft das Glück programmieren könne, zumnindest das größte Glück der größten Anzahl, stempelt die Unglücklichen zu einer abweichenden Minderheit. Unglückliche stören nur. Schiller empfiehlt ihnen denn auch, sich unauffällig aus dem Bund der Freunde zu entfernen.
Fast alle Leser de Sades erklären ihn für unlesbar, die einen, weil sie die ständigen Diskussionen über philosophische Fragen unsäglich langweilig finden, die anderen, weil die stereotypen, durchrationalisierten Orgien sie ermüden. Simone de Beauvoir beispielsweise beklagt in ihrem Essay Soll man de Sade verbrennen? „Seine ermüdenden Wiederholungen, klischeehaften Formulierungen und stilistischen Ungeschicklichkeiten“. Doch trotz all dieser Mängel ist de Sade als Schriftsteller und als Mensch auch für sie von höchstem Interesse. Wie kommt es zu diesem Paradox? Was Simone de Beauvoir hervorhebt, ist die abweichende, individualistische Ethik de Sades, die es ihm nicht erlaubte, mit den Männern von 1789 und erst recht nicht mit denen von 1793 übereinzustimmen. Als die Schreckensherrschaft begann, legte de Sade seinen Posten als Vorsitzender der revolutionären „Section des Piques“ nieder. Wenn der Mord durch Verfassung erlaubt ist, ist er nur noch der abscheuliche Ausdruck abstrakter Prinzipien: „Ich habe mich gezwungen gesehen, meinen Sessel dem Vizepräsidenten zur Verfügung zu stellen“, schrieb der Citoyen de Sade an seinen Sekretär Gaufridy, „sie wollten mich dazu bringen, Abscheulichkeit, Unmenschlichkeit ins Werk zu setzen. Ich habe das niemals gewollt.“ Und Simone de Beauvoir kommentiert: „Das Böse, bei dem er Zuflucht gesucht hatte, verschwindet, wenn die Tugend sich das Recht zum Verbrechen herausnimmt. Eine mit gutem Gewissen ausgeübte Schreckensherrschaft ist die radikalste Verneinung der dämonischen Welt Sades.“ 1793 wird de Sade als „Gemäßigter“ eingesperrt.
Aus der Tiefe des Gefängnisses wirft er einen unerbittlichen, rächenden Blick auf die Moral derer, die ihn verurteilt haben. Wollüstig nimmt er die Entrüstung der Öffentlichkeit vorweg. Absichtlich hat er jene „gesunden“ Gefühle verletzt, die ihm seine grausame Bestrafung eingetragen haben. Gewiß, als Theaterautor hat auch de Sade sich wie Schiller eine positive, der Schönheit und dem Guten enthusiastisch zujubelnde Menge erträumt. De Sade hätte ohne diese letzte Illusion nicht leben können, ohne den Rausch des Konsensus, dem süßen Nektar des Ruhms. Aber der Prosaschriftsteller in ihm ist unerbittlich. Unter einem ungeheuren Leidensdruck treibt er - darin liegt seine Modernität - die sadistische Grundstruktur jenes Bundes hervor, der ihn ausschloß. Er bringt die kollektive Gewalt zur Sprache, die doppelt verdrängte. Nicht bloß aus dem Bewußtsein war sie verdrängt worden, sondern auch aus jenem Terrain, auf dem das Verdrängte wiederkehren darf aus der Kunst. Weil er sich an das Tabu der Gewaltdarstellung nicht hielt, hat er Jahrhunderte lang Anstoß erregt und erregt ihn immer noch. Durch die Risse aber, die unter dem Druck der Gewalt im Bewußtsein entstehen, sickert Zukunft ein. Die Beschreibung des Absolutismus gerät ihm, dem Eingeschlossenen, zur Vision des Totalitarismus. Daher wurde er im zwanzigsten Jahrhundert eigentlich erst aktuell. Er zeigt, daß die Kontrollinstanz, die doch das Böse abwehren soll, durch und durch von ihm infiziert ist. Sein kerker belebt sich. Er sieht Orgien, hört Todesschreie, dann wieder ruhige Stimmen in endlosem Dialog. Er entwirft szenische Modelle, aber sie dienen nicht mehr, wie seine Theaterstücke, dem Zweck der Erbauung und Unterhaltung. Er schleudert sie der Zivilisation wie etwas Brennendes ins Gesicht.
Nur einmal hält Juliette in ihrem rasenden Galopp inne. Wie de Sade der Schreckensherrschaft, so verweigert Juliette sich plötzlich, aufgrund eines Traums, dem Plan zur Entvölkerung Frankreichs. „Ein schrecklicher Traum störte mich. Ich glaubte, eine entsetzliche Person zu sehen, die mein Haus in Flammen setzte. Mitten in diesem Brand suchte ein jugendliches Wesen mich zu retten. Es ging aber selbst in den Flammen unter.“ Noch halb im Traum, erwacht sie. Die Prophezeiung der Zauberin steht vor ihr. In jenem jugendlichen Wesen, das sie zu retten sucht, erkennt sie Justine, ihre traurige Schwester. „Oh Himmel, ich bin verloren“, ruft Juliette aus, „denn ich habe einen Augenblick aufgehört stündig zu sein.“ Zum ersten und einzigen Male gerät sie in Schwierigkeiten, nicht für ihre Verbrechen wird sie bestraft, die sie vielmehr bis ans Lebensende ungestraft weiter begeht, sondern für das Unterlassen eines Verbechens.
Die Umrisse der beiden Frauengestalten verschwimmen. Sie gehen auf einmal ineinander über und bilden nur mehr ein einziges, moralisch-androgynes Doppelwesen, dessen eine Hälfte die andere träumt.
Gekürzt aus: Streitbare Philosophie - Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gabriele Althaus und Irmingard Staeuble, Grußwort von Oskar Negt, Metropol -Verlag, 75 DM.
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