Der zweite Fast-Lockdown: Merkel, greif durch!

Die Bundesregierung macht bisher einen guten Job in der Corona-Pandemie. Die Gesellschaft leider nicht.

Bild: dpa

Von UDO KNAPP

„Es gehört zu den dunklen Seiten unserer eigenen Geschichte, dass moderne komplexe Gesellschaften stets nur in Ausnahmesituationen vollständig integrierbar und steuerbar waren.“(…) „Denn anders als jene Freiheit im Sinne der Schutzrechte dem Staat gegenüber, sehen sich nun staatliche Entscheidungen der Notwendigkeit gegenüber, Schutzmaßnahmen gegen die Nichtorganisierbarkeit der Gesellschaft in Stellung zu bringen.“ Armin Nassehi in der FAZ vom 29.Oktober

Der zu erwartende Verlauf der Corona-Pandemie und die Wege zu ihrer Eindämmung waren schon bei ihrem ersten Auftreten im April dieses Jahres offensichtlich. Es würde nicht Monate, sondern mehrere Jahre brauchen, bis mit Hilfe eines gegen Nebenwirkungen sicheren Impfstoffes eine Eindämmung von Corona gelingen würde. Es kam damals und es kommt heute darauf an, das öffentliche und private Leben für diese lange Zeit so einzustellen, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen, das Leiden und Sterben, das Gesundwerden und das Weiterleben von der ganzen Gesellschaft als gemeinsame Aufgabe, als solidarische Pflicht Aller für Jeden nicht nur maulend ertragen, sondern gemeinsam gelebt werden.

Abstand halten, überall und immer; das Weitertragen des Virus erschweren um jeden Preis; das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung möglichst umfassend und bis ins private Leben hinein, mit digitalen Instrumenten, öffentlich erfassen und nachverfolgen; das Gesundheitswesen und alle  sach- und fachaffinen Bereiche des Gesundheitswesens sächlich und fachlich zur Organisation des Lebens unter Pandemiebedingungen ertüchtigen, was immer es koste; die öffentlichen Institutionen in ihren legalen und legitimen, vor allem exekutiven Ordnungs- und Durchgriffsrechten bekräftigen, ermächtigen und stärken; die Entwicklung, Herstellung und den Einsatz eines Impfstoffes in den nächsten Jahren Zutrauen schaffend organisieren; Wirtschaft und Gesellschaft aktiv darauf einstellen, dass das gefällige Fettleben, der allseits, gewohnte Konsumismus – jenes „immer mehr für alle und immerfort“, in den nächsten Jahren nicht möglich sein wird – und am wichtigsten, aktiv dafür sorgen, dass allen Kindern, Schülern und Studenten unter allen Umständen und mit allen einsetzbaren technischen, pädagogischen und finanziellen Mitteln alle Wege in ihre glückliche Zukunft offengehalten werden: Wie hier angedeutet beschrieben und selbstverständlich nicht hundertprozentig umgesetzt, sind vor allem die Kanzlerin und ihr Kabinett, Spahn, Altmaier, die Ministerpräsidenten der Länder und in einer großen Kraftanstrengung alle öffentlichen Bediensteten im Pandemie-Geschehen erfolgreich unterwegs.

Offen artikulierende Anspruchshaltung

Die sozialen Sicherungssysteme bewähren sich im täglichen Pandemiemanagement. Die Exekutive hat das Pandemiegeschehen im Großen und Ganzen vertrauenerweckend im Griff. In der Alltagsöffentlichkeit hat dieses beeindruckend strukturierte und starke Regieren eine zweifache Wirkung. Zunächst einmal hält sich die große Mehrheit der Bürger mehr oder weniger an die Vorgaben, nimmt aber dennoch, genau hingesehen, den Ernst der Pandemie-Lage achselzuckend nicht zur Kenntnis.

Was, zum Beispiel, als Überbrückungshilfe aus den öffentlichen Haushalten in der Not gedacht war, verstärkt in der Öffentlichkeit aber eine sich offen artikulierende Anspruchshaltung auf öffentliche Corona-Hilfen aus den Haushalten von Bund und Ländern für Kneipen, Theater, Hotels und wen auch immer, der sich selbst für systemrelevant erklärt.

Und anstatt, zum Beispiel, wegen der besonderen Gefährdungen für alle einfach mal zwei Jahre den Urlaub zu Hause zu verbringen, wird augenzwinkernd daran gearbeitet, auf welchem Wege eine Reise-Beschränkung umgangen werden kann. Werden illegale Partys in Parks oder sonst wo abgehalten, dann gilt bei einigen jungen Leuten als besonders cool.

Verantwortung ignorierende „Haltung“

Tourismus und Kultur, das hedonistische Alltagsleben, darauf kann man doch nicht einfach mal verzichten, das muss doch sein, und außerdem  kostet der Verzicht auf all diesen Luxus ja auch Arbeitsplätze … so oder so ähnlich wird landauf, landab daher geredet.

Diese locker-lustige, aber Verantwortung ignorierende „Haltung“ schafft auf der anderen Seite erst den immer breiter werdenden Resonanz- und Handlungsraum für alle jene, die die Pandemie benutzen, um ihren autoritären und destruktiven Kampf gegen jedes demokratische Leben zu verstärken. Auf breiter Front wird hier der Eindruck erweckt, als würden die Regierenden, allen voran Frau Merkel, die Pandemie nur nutzen, um die individuellen Freiheitsrechte in der Republik dauerhaft zu beschneiden und mittels beschwörend erhobenem Zeigefinger und nicht sauber belegten Infektionszahlen eine „Corona-Diktatur“ (Alexander Gauland) zu errichten.

Selbstverständlich gibt es auch viele Leute, die sich wirklich anstrengen, ihren Teil zur Eindämmung des Virus beizutragen. Aber die selbstverliebte Nonchalance der Mehrheitsgesellschaft und die freiheitsfeindlichen Corona-Leugner bis hin zur AfD, belegen Armin Nassehis vorsichtigen, eher erschrocken klingenden Hinweis auf die „Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen gegen die Nichtorganisierbarkeit der Gesellschaft“, die die Regierung jetzt ergreifen muss, um die Gesellschaft in einigermaßen ziviler Art und Weise durch die Corona-Krise zu führen.

Leitplanken für die Corona-Politik

Auch in einer Demokratie gibt es für einen dauerhaften Schutz aller Bürger, unabhängig von Alter und Gesundheit, für die jeweilige Regierung das Recht und die Pflicht – natürlich fortlaufend von der Legislative kontrolliert – ihre exekutive Macht und ihr Gewaltmonopol direkt einzusetzen. Dazu gibt das Infektionsschutzgesetz schon jetzt ausreichend rechtsicheren Spielraum. Die Parteien, die sich aufregen, nicht ausreichend an der Pandemie-Politik beteiligt zu werden, hält niemand davon ab, im Parlament strategische Leitplanken für die Corona-Politik zu erarbeiten, zu beschließen und die Regierung so zu binden.

Das im Landtag Baden Würtemberg schon im Frühjahr beschlossene Corona-Gesetz, zum Beispiel, zwingt die Landesregierung in Stuttgart alle zwei Monate ihre Corona-Politik vor dem Landtag neu zu begründen. Die larmoyante Kritik der Opposition im Bundestag, sie würde nicht genug am Corona-Bekämpfen beteiligt, klagt dagegen Zuständigkeiten für sich ein, die zu Recht bei der Exekutive verortet sind. Die Parlamente haben aus guten Gründen der Gewaltenteilung keinen direkten Zugriff auf das Regieren und die Institutionen der Exekutive. Politik und Gutes Regieren sind zu Recht im demokratischen Alltag getrennte Handlungssphären.

Es ist nachvollziehbar, zwingend  und gerechtfertigt, dass die Bundesregierung im Zweifel auch Grundrechte einschränkt und weiterreichende Maßnahmen ergreift, wenn die Massenloyalität der Bürger gegenüber einer begründeten und wissenschaftlich abgesicherten offensive Anti-Corona-Politik weiter erodiert oder bewusst und gezielt bekämpft wird.

Vor dem stabilen Hintergrund der demokratischen Strukturen in der Bundesrepublik - von der Gewaltenteilung bis zum Föderalismus – ist das nicht beunruhigend. Eher beunruhigend ist das bevorstehende Abtreten von Kanzlerin Merkel, wenn man die bisher wenig überzeugende Nachfolgeshow der CDU sieht. Die Bürger erwarten zu Recht von allen Parteien, dass sie ihr Führungspersonal für die nächste Bundesregierung so auswählen, dass die dann in der Lage und willens sind, jene „Schutzmaßnahmen gegen die Nichtorganisierbarkeit der Gesellschaft“ zu ergreifen und durchzusetzen, von denen Armin Nassehi spricht. Und damit das notwendige Zusammenrücken der ganzen Gesellschaft in den bevorstehenden schweren Jahren nicht erodieren, sondern herstellen.

UDO KNAPP ist Politologe und war letzter Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS).

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