: Beamten- Zirkus
Markschiess van Trix und seine Zirkusgeschichte-Sammlung „Documenta Artistica“ ■ Von Ursula März
Markschiess van Trix muß man nichts Bestimmtes fragen. Es reicht, „Guten Tag“ oder „Wie geht's?“ zu sagen, und er legt los. Ohne Halt durchquert er hundert Jahre Kulturgeschichte. Die Strecke heißt: Zirkuskunst. Irgendwann steigt man taumelnd aus und fragt sich, ob es auf dieser Welt noch etwas anderes gibt als Illusionisten und Elefanten.
Markschiess ist Deutschlands allwissender Zirkusexperte und den einschlägigen Artistenkreisen in der ganzen Welt bekannt, allerdings unter dem transatlantisch verbindlichen Namen „Jonny“. Markschiess ist eine Instanz als Sammler und genuiner Leidenschaftler: als Erzähler. Seine ins Märkische Museum übergegangene Sammlung Documenta Artistica ist ein Produkt närrischen Eigensinns. Seine weiten und ausholenden Erzählungen haben ihren eigenen Fahrplan.
Felsenfest kann der in diesen Erzählungen zuhörend Mitgereiste sich beim Weggehen vornehmen: Nächstes Mal stellst du gezielte Fragen, da tönt es von oben aus dem zweiten Stock der Wallstraße 67: „Wissen Sie eigentlich, wie um die Jahrhundertwende 'ne Eintrittskarte aussah? Und wat der Litfaß außer der Säule noch gemacht hat?“ Litfaß nämlich, der von 1814 bis 1872 lebte, war ein beweglicher Geschäftsmann und brachte die kommerzielle Umgebung der Berliner Kultur in Schwung. Er führte in Deutschland Schnellpressen ein, die so groß waren, daß damit Plakate gedruckt werden konnten. „Und was, meinen Sie, war auf dem ersten Plakat abgedruckt? Siamesische Zwillinge!!“ Daraus könne man schließen, daß dieses Litfaß-Plakat eine Auftragsarbeit für den Zirkus Renz gewesen sei, die große deutsche Zirkusdynastie des letzten Jahrhunderts, deren Spezialität es war, menschliche Kuriositäten auftreten zu lassen.
Litfaß druckt Handzettel für das Theater. Litfaß bringt eine sogenannte 'Zwischenaktzeitung‘ heraus, eine sehr frühe Vorläuferin der Programmzeitschriften (von der Markschiess natürlich Originale aufgetrieben hat). Und Litfaß betreibt eine Künstleragentur. Dann unternahm er eine Reise nach Paris, wahrscheinlich in der Begleitung von Zirkusdirektor Renz. Genau könne er das nicht belegen, meint Markschiess. Zuzutrauen wäre ihm, daß er sich auf die Suche nach den Bahnfahrkarten begeben hat. In Paris ging die öffentliche Plakatierung bereits geordnet vor sich, an Rotonden, und nicht, wie in Berlin, wild, überall und nach Laune. Litfaß, unterstützt vom Berliner Polizeipräsidenten, stellte Säulen auf, und wer Plakate hängen wollte, mußte sich an diese halten.
Dann: Alois Kastner. Kastner (1887 bis 1970) hatte die wunderbare Berufsbezeichnung „Illusionist“ und ließ in der Manege oder auf der Bühne einen Elefanten verschwinden. Tagelang hatte Alois Kastner die Elefanten im Zoo Hagenbeck beobachtet, bis er den einen, Toto, fand, der ruhig und geduldig genug war für professionelle Magie. Was im Zoo nicht zu ahnen war und im Zirkus sich erwies: Toto soff gerne Bier. Leicht berauscht war er der ideale Illusionselefant, weil er sich, ohne zu trampeln und zu trompeten, verschwinden ließ. Aber wie?
„Det is doch janz einfach“, sagt Markschiess, „denken Sie doch mal an det Prinzip vom schwarzen Kabinett.“ Schwarz auf Schwarz sieht man nicht. Das Spektakel mußte sich vor einer schwarzen Rückwand abspielen. Im entscheidenden Moment wurde Toto ein großes weißes Tuch übergeworfen; begleitet von großen rhetorischen Saltos von seiten Kastners, der, „auf deutsch, det Publikum besoffen quatschte“. Das weiße Tuch wird wieder weggezogen: Nichts mehr zu sehen von einem Elefanten aus Afrika, der Toto heißt. Toto aber steht in Wahrheit, wo er stand, unter einem schwarzen Tuch. Das schwarze Tuch war unsichtbar unter dem weißen. Oder „Wasserminna“, ein Berliner Phänomen. Minnas Ruhm bindet sich an eine ganz ins Vergessen geratene Spezialität der Zirkuskunst, die artistischen Aufführungen in Wassermanegen Anfang bis Mitte des Jahrhunderts. Die Manegen hatten ein Wasserbecken von acht Meter Tiefe, und die Kunststücke, die darin gezeigt wurden, waren eingebunden in regelrechte Genre-Szenarien wie „Wilder Westen“ oder „Ritterburg“, für die Libretti verfaßt wurden, die Markschiess natürlich in seiner Sammlung hat. Minna war die Königin der Wassermanege. Sie machte, was kein Mann sich traute. Sie sprang, auf einem Pferd sitzend, von der Zirkuskuppel in die Wassermanege, erzählt Markschiess van Trix.
Markschiess wuchs am Alex auf. Ein Kind, das neben der Schule Geldverdienen lernt. Er wiegt in einem Seifenladen Seifenflocken ab, lockert für einen Polsterer Seegras auf, verkauft Postkarten. Er zieht einen Hinterhofzirkus auf, schleicht sich in den Zirkus Busch am Bahnhof Börse und trainiert in Neukölln, der Hochburg von Artistenvereinen, in den billigen Proberäumen von „Union Victoria“.
Eines Tages kommt Charlie Chaplin nach Berlin, steigt aus dem Auto und geht in der Waisenstraße spazieren. Es gibt ein Foto, das den elfjährigen Markschiess neben Charlie zeigt, nahe dem Lokal „Zur letzten Instanz“.
Markschiess arbeitet im „Europäischen Hof“, der direkt neben dem Varieté „Wintergarten“ liegt, als Laufbursche und lernt beim Hotelfriseur den Wintergarten-Direktor Ludwig Schuch und den Regisseur Hans Reimers kennen. Das ist der Anfang der Documenta Artistica. Beim Haareschneiden und Rasieren schwatzt Markschiess den Herrn Programmhefte ab. Seitdem, seit 45 Jahren, trägt Markschiess die Documenta Artistica zusammen. Sie ist, im Bereich Zirkus und Varieté, die umfassendste der Welt. Allein die Plakatsammlung umfaßt 9.000 Stücke; dazu Kostüme, Programmhefte, Fotos, Artisten-Utensilien, Requisiten. Aus einem obsessiven Sammler kann man keinen Museumsbeamten machen. Eine Sammlung braucht aber, sobald sie groß und teuer ist, eine Institution; da fängt das Problem an. Seit zwanzig Jahren kämpft Markschiess um angemessene Verwahrungs- und Ausstellungsräume, zieht mit seiner Sammlung von Haus zu Haus, beheizt da einen Keller, renoviert dort eine Villa, tritt dem Ostberliner Magistrat so lange auf die Füße, bis sein Schatz 1970 aufgekauft und der Abteilung Documenta Artistica des Märkischen Museums angegliedert wird. Er selbst wird als Abteilungsleiter beim Museum angestellt. Das Ende des Provisoriums.
Als das neue Museum Documenta Artistica im Erdgeschoß des Eckhauses Wallstraße/Inselstraße im Dezember 1990 offiziell eingeweiht wird, ist Markschiess van Trix, der Kostüme aus Moskau heraus- und Varieté-Marionetten von Amerika herübergeholt hat, nicht mehr der Leiter seiner Sammlung. Die Wiedervereinigung hat Markschiess von seinem Lebenswerk getrennt. Juristisch ist ihm dabei kein Unrecht geschehen. Er wurde im vergangenen Jahr siebzig Jahre alt, und seine Versetzung in den Ruhestand— kurz vor der Museumseröffnung— vollzog sich im Sinne pragmatischer, verwestlichter Personalpolitik. Markschiess ist nicht mehr der Gesündeste.
Seiner Pensionierung voraus aber ging ein paradoxer, unwürdiger Kleinkrieg. Ein Streit, der in alten Zeiten schwelte — Markschiess hielt die unmittelbaren Mitarbeiter seiner Abteilung für inkompetent, diese hielten ihn für handelsschlau —, brach nach der Wende offen aus. Markschiess sei mit der Sammlung, die ja seit 1989 dem Museum gehört, wie mit Privatbesitz verfahren. Die Katalogisierung sei lückenhaft. Markschiess' Veröffentlichungspraxis sei von feudaler Beliebigkeit gekennzeichnet, seine Haushaltsführung mit der Sammlung undurchschaubar. Es fehlten Stücke, an denen sich Markschiess persönlich bereichert habe. Anfang 1990 geht bei der Kriminalpolizei eine Diebstahlsanzeige gegen Markschiess van Trix ein. Die Polizei weist die Anzeige mangels strafbaren Sachverhalts zurück. Aber Markschiess fühlt sich nicht rehabilitiert und von seinem Museumsdirektor Hampe im Stich gelassen, dem Warten mehr liege als Eingreifen.
Markschiess' Pensionierung aus Altersgründen mag der Ratlosigkeit der Kulturbehörden und des Direktors zupaß gekommen sein. Die Documenta Artistica hat Ruth Freydank, die Abteilungsleiterin für Berliner Theatergeschichte am Märkischen Museum, unter ihre Fittiche genommen. Freydank steht mit van Trix, man kann es nicht anders sagen: auf Kriegsfuß. Sie will in der Sammlung ein Chaos angetroffen haben, das sie mit fester Hand lichtet. Er mußte zusehen, wie sie, mit besten wissenschaftlichen Absichten und vom Senat beauftragt, seine Passion adoptiert. Im Dezember 1990 stellt Ruth Freydank mit dem Museumsdirektor die Documenta Artistica in den neuen Räumen der Wallstraße 67 der Öffentlichkeit vor. Markschiess ist als Tags zuvor von Herbert Hampe („dringend“) geladener Ehrengast dabei. Das ist, da diese Eröffnung für den siebzigjährigen Markschiess sein Lebensziel darstellte, alles andere als eine Ehre. Kein Stück gäbe es ohne ihn in dieser Sammlung, keinen Quadratmeter der Ausstellung. „Oder meinen se, een Artist in Amerika wäre uff die Idee jekommen, det Kostüm oder die Jonglierbälle an det Märkische Museum in Berlin zu schicken? Aber mir, Jonny, hamses jeschickt, weil jeder im Metier wußte, dat ick sammle.“
Einmal dahingestellt, ob Markschiess einen guten Beamten abgab, ein allzeit unkomplizierter Kollege im Märkischen Museum war und der ideale Ordnungshüter seiner Sammlung — der Logik der Behörden und der Geschwindigkeit ihrer Vereinigung ist zweierlei entgangen. Erstens: Man kann einen Menschen nicht aus seinem Leben wegpensionieren. Zweitens: Eine Privatsammlung kann den Besitzer wechseln, die Bindung eines Sammlers an seine Stücke bleibt darüber bestehen. Gäbe es den obsessionellen Charakter dieser Bindung nicht, würde die Sammlung nicht existieren.
Immerhin wurde van Trix bei seiner Pensionierung ein Vertrag zur Beratung der Abteilung Documenta Artistica angeboten. Nur ist der Vertrag bis heute nicht abgeschlossen. Ruth Freydank wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen. Lieber, sagt sie, arbeite sie sich durch Bücher durch, um herauszubringen, wo einzelne Stücke, die sie nun systematisiert, her sind, als mit Markschiess zu tun zu haben. Markschiess kämpft jetzt um seinen Beratervertrag, wie er vorher Jahrzehnte für seine Sammlung kämpfte.
Reiner Güntzer, Museumsreferent des Kultursenats und mit der Rolle des Friedensstifters ein wenig überfordert, ist das Ganze unbequem, er schiebt die Entscheidung über den Beratervertrag, wie er zugibt, „vor sich her“. Und die Sammlung in der Wallstraße 67? Sie ist da. Aber sie hat, wie die Dinge da aufgereiht und in Vitrinen stehen, mit Zirkus so wenig zu tun wie ein Quelle- Katalog mit einem Basar. Das ändert sich, wenn man einen Rundgang macht in Begleitung von Markschiess van Trix und er von den Dingen erzählt. Über seinen letzten Besuch bei der hochbetagten Wasserminna, über Totos Ende im Dritten Reich. Oder über das Problem der Zirkusaffenfütterung in der Epoche sozialistischer Bananenknappheit.
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