Antworten auf Fragen der Zeit: Größer als Wir und Ihr

Ist die Mehrheit ein Bündnispartner oder immer nur ein Gegner? Jagoda Marinić über ein erweitertes Verhandlungsspektrum.

Bild: Christian Dammert

von Jagoda Marinić

Irgendwann hatte ich keinen Nerv mehr, immer nur auf der Seite des »richtigen« Gedankens zu stehen. Zugegeben, es lebt sich gut auf der Seite der Weltverbesserer. Ich wollte aber reale Veränderungen sehen. Wollte sehen, wie meine Positionen neue Wirklichkeit schaffen könnten. Das begann, als ich in Heidelberg den Auftrag annahm, ein interkulturelles Zentrum für die Stadt aufzubauen.

Zwanzig Jahre lang war die Forderung nach einem Haus der Kulturen daran gescheitert, dass sich das Ganze als Minderheitenprojekt präsentierte. Erst als die Stadt bereit war, es als gesamtstädtisches Projekt anzugehen und ich ein Konzept dafür ausarbeiten sollte, fand sich nach zwei Jahren Projektarbeit eine breite politische Mehrheit für eine dauerhaft angelegte neue Einrichtung in städtischer Hand. Zwei Jahre mit einem Ansatz, der sowohl Mehrheiten als auch Minderheiten meint, um ein Projekt umzusetzen, das zwanzig Jahre lang an der Betonung der Minderheitenidee gescheitert war.

Um in heterogenen Gesellschaften etwas schnell voranzubringen, muss man von der alten Idee der Minderheiten gegen die Mehrheit Abstand nehmen. Man verlässt nicht die Position, die man vertritt, aber man sucht einen neuen Aushandlungsraum, um von dieser Position aus etwas zu erreichen. Man erweitert sein Verhandlungsspektrum.

Das Unvermögen, die eigene Blase zu verlassen, ist älter als die sozialen Medien

Wer in einer Demokratie etwas verändern will, muss einerseits Visionen säen. Doch für die zeitnahe Umsetzung kann ich mir nicht nur die Schöngeistigen herauspicken oder jene, die meine Erfahrungen oder Perspektiven teilen. Naturgemäß muss jede Demokratin auch mit jenen verhandeln, mit denen sie privat eher nicht zu Abend essen würde. Wer etwas verändern will, muss seine Anliegen so formulieren, dass es zumindest denkbar ist, damit die Mehrheiten hinter sich zu bringen. Sicher, ich kann mich abfeiern (lassen) für das Formulieren des Progressiven. Das Progressive wird immer die Keimzelle der großen Veränderung bleiben. Doch wer will, dass sich schnell und spürbar etwas verändert, muss für das »Wir« auch jene gewinnen, gegen die er sich normalerweise positioniert. Das fiel mir vor allem dort auf, wo sich zu unzähligen Kongressen und Podien immer dieselben Menschen versammelten, sich auf die Schultern klopften und beim Resümee erstaunt waren, wie wenig sich insgesamt bewegt. Das Unvermögen, die eigene Blase zu verlassen, ist älter als die sozialen Medien.

Es ist interessant, wie gerade beim Integrationsdiskurs ständig vom großen gemeinsamen »Wir« gesprochen wird. Dieses »Wir« wird geradezu heraufbeschworen als Lösung für eine vielfältige Gesellschaft. Letztlich lebt jedoch kaum ein Diskurs so stark vom »Wir und Ihr« wie der Integrationsdiskurs. Sowohl von der Mehrheit als auch von den Minderheiten aus. Wir leben jedoch in einer Zeit, in der wir Mehrheits- und Minderheitendiskurse ebenso überwinden lernen müssen wie altes Lagerdenken.

Man muss jetzt ansetzen, Ziele zu formulieren, die weit größer sind als »Wir« und »Ihr«. Anders wird die demokratische Gesellschaft nicht handlungsfähig, das Ausspielen der Lager wird zum Kern der Politik. Wir kreieren den Stillstand mit, den wir beklagen. Nehmen wir als Beispiel die humanitäre Krise Europas, wenn es um die Hilfe für Menschen auf der Flucht geht. Spätestens seit 2015 herrscht hier das »Wir und Ihr«. Die einen wollen Menschen helfen, die anderen wollen dieselben Menschen nicht einmal über die Grenze kommen lassen.

Forderungen so formulieren, dass sie für eine Mehrheit tragbar sind

Darf die Demokratie die Humanität auf die Zivilgesellschaft abwälzen, weil sie hier zwar die Minderheit ist, aber doch zahlreich genug, um vieles aufzufangen? Das Problem der gewaltsam entheimateten Menschen ist weitaus älter als 2015. Bevor die Menschen nach Europa kamen, gab es nicht einmal eine Mehrheit dafür, über die damals sechzig Millionen Menschen auf der Flucht zu sprechen. Der UN-Flüchtlingsbeauftragte beschwerte sich, die Mächtigen würden ihm nicht einmal Anhörungstermine geben. Inzwischen sind siebzig Millionen auf der Flucht. Eine Minderheit.

Wer Demokratie ernst nimmt und sie handlungsfähig sehen will, der muss letztlich lernen, seine Forderungen so zu formulieren, dass sie für eine Mehrheit tragbar sind. Eine Mehrheit, die für diese Minderheit Verantwortung übernimmt, indem sie die zuständigen Politiker beauftragt, und die das Thema nicht entlang einzelner Maßnahmen für wenige klein siebt. Für das große Ziel muss man die Mehrheit finden, die Maßnahmen können im Anschluss verhandelt werden.

Das Ziel, für das eine Mehrheit hermüsste, ist: Kein Mensch darf sterben in seiner Not, wenn ihm geholfen werden könnte. Man wird damit womöglich nicht offene Grenzen durchsetzen. Wenn man offene Grenzen für das einzige lebenswürdige Europa hält, wird das enttäuschen. Doch man hätte einen Anfang, von dem aus die Mehrheit sich verpflichtet, das zu tun, wozu sie längst verpflichtet ist.

JAGODA MARINIĆ ist Schriftstellerin, Publizistin und Leiterin des Interkulturellen Zentrums Heidelberg.

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