: Tief, tiefer, Irland
Die Grüne Insel bricht bei Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Auswanderungsquote alle EG-Rekorde ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck
Wer sagt, der Thatcherismus sei tot? In Irland feiert er Auferstehung. Als Finanzminister Bertie Ahern vergangenen Mittwoch dem Parlament den neuen Haushalt vorlegte, fühlten sich viele Abgeordnete an die Eiserne Lady erinnert. Ahern strich die Steuerklasse für Spitzenverdiener von 52 Prozent und setzte gleichzeitig den Mehrwertsteuersatz von 12,5 auf 16 Prozent hoch. Wie in den letzten beiden Jahren setzt die Regierung unbeeindruckt ihre Umverteilungspolitik fort; für Irlands Schulden, die bereits 108 Prozent des Bruttosozialprodukts betragen, müssen weiterhin die unteren Einkommensschichten bluten. Lediglich die Autofahrer können sich noch freuen: Benzin wird um zwei Pence (5,3 Pfennig) pro Liter billiger.
„Wer nicht raucht, Auto fährt, Cider trinkt, sich nicht die Haare schneiden läßt, darüber hinaus keine Kreditkarte besitzt, nicht in der Kantine ißt sowie weder Kleidung noch Schuhe trägt“, zieht der rechte Wirtschaftsexperte Michael Noonans Bilanz, „dem wird es nach diesem Budget ein klein wenig besser gehen — sofern er einen Job hat.“ Die Opposition wirft Ahern vor, er habe in dem Fiskalpaket die wunden Punkte der irischen Wirtschaft einfach ausgeklammert: die Rekordarbeitslosigkeit, das desolate Gesundheitswesen und die zunehmende Armut im Land — fast ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Sozialhilfeempfänger etwa wurden mit einer Erhöhung ihrer ohnehin dürftigen Bezüge von vier Prozent abgespeist. Die wird freilich von der Inflation von derzeit 3,75 Prozent praktisch aufgefressen.
Seit nunmehr 16 Monaten steigt die Arbeitslosigkeit stetig an. Offiziell sind knapp 270.000 Menschen ohne Beschäftigung — das sind 20,2 Prozent, die höchste Rate in der irischen Geschichte. Darin sind jedoch weder die Auswanderer noch verheiratete Frauen enthalten. Die irische Regierung beantwortete die Arbeitslosenzahlen mit Zynismus: Wenn man saisonbedingte Entlassungen einbeziehe, sei die Arbeitslosigkeit im Dezember langsamer als erwartet gestiegen. Mike Allen von der irischen Arbeitslosen-Organisation glaubt, daß die Bevölkerung die hohe Arbeitslosigkeit als unvermeidlich ansehe. Damit sich die „schockierende Ignoranz gegenüber ökonomischen Grundlagen“ ändere, fordert er ein öffentliches Forum zu dem Thema — eine Idee, die von SchriftstellerInnen, Gewerkschaften und Kirchen unterstützt wird.
Selbst ein von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht läßt kein gutes Haar an der irischen Industrieansiedlungspolitik. Die Experten weisen auf eklatante Widersprüche hin: Einerseits werden Milliardensummen für Industriesubventionen verpulvert, andererseits verhindere das bestehende Steuersystem die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Firmen würden sich vornehmlich darauf konzentrieren, möglichst viele Subventionen und Steuervergünstigungen abzuschöpfen und dabei den Aufbau einer effizienten Industrie vernachlässigen.
Zwischen 1980 und 1990 hat der Staat 1,6 Milliarden Pfund (4,24 Milliarden Mark) ausgegeben, um irische und ausländische Unternehmen zu Investitionen in Irland zu ermutigen. Das Fazit ist ernüchternd: Am Ende des Jahrzehnts hatten die einheimischen Unternehmen, die von der Regierung mit Subventionen bedacht wurden, einen Verlust von 2.000 Jobs zu vermelden. Die ausländischen Firmen, die sich neu angesiedelt hatten, konnten gerade zusammen 9.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Mit anderen Worten: Jeder dieser neuen Jobs hat den Staat rund 605.000 Mark gekostet. Wie sehr sich die Regierung verkalkuliert hat, zeigt eine andere Zahl: Mit dem Geld, das irischen Firmen 1980 als Expansionshilfe gewährt wurde, sollten 61.500 Jobs entstehen. Stattdessen waren sie zehn Jahre später um 45.000 geschrumpft.
Die Wirtschaftsexperten machen in ihrer Studie 84 Vorschläge zu einer umfassenden Steuerreform und Neuorientierung der Industriepolitik. Doch selbst wenn sämtliche Vorschläge in die Tat umgesetzt würden, könnten lediglich 10.000 Arbeitsplätze pro Jahr aus dem Boden gestampft werden, heißt es in dem Bericht. Doch selbst damit ist in Irland nicht zu rechnen. Die Regierung ist offenbar nicht bereit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, wie auch der Haushaltsplan für dieses Jahr beweist. Selbst ein Minimalprogramm zur Verbesserung der Situation sucht man in dem Etatwerk vergeblich.
So kann es nur noch schlimmer werden. Bis zur Jahrtausendwende werden jährlich 25.000 Menschen auf den Arbeitsmarkt strömen, haben Bevölkerungswissenschaftler errechnet. In den vergangenen drei Jahren stand dem ein Angebot von 3.800 Jobs gegenüber. Kein Wunder, daß immer mehr junge IrInnen dem Land den Rücken kehren wollen. Über 30.000 wandern bereits jedes Jahr aus. Inzwischen sind es vor allem junge Fachkräfte; so verläßt etwa ein Fünftel der Hochschulabsolventen die grüne Insel bereits wenige Monate nach dem Examen. Wie gering das Vertrauen in die von der Regierung versprochene „nationale Erholung“ ist, zeigte sich Mitte Januar: Nachdem die USA wieder einmal eine Handvoll Einwanderungsvisa zur Verfügung gestellt hatten, bildeten sich vor der US-Botschaft in Dublin riesige Menschenschlangen.
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