: Oase ohne Konsumterror
Serie: Staub abschütteln – Tips für Stadtflüchtlinge. Heute: Der polnische Ferienort Moryn, 110 Kilometer nördlich von Berlin, liegt auf einer Halbinsel im See ■ Von Helmut Höge
Der Anfahrtsweg könnte einem Militärtouristen Freude machen: die Frankfurter Allee runter, an den Seelower Höhen vorbei, über die Oderinsel und die Warthe – an diversen Kriegsdenkmälern vorbei –, durch das 1945 völlig zerstörte Küstrin immer geradeaus. Auf dem Weg nach Szczecin geht es dann links ab nach Moryn: Eine Halbinsel im Morzycko-See, die vor rund tausend Jahren zu einer Wehrburg ausgebaut wurde. 1433 zerstörten vorbeiziehende Hussiten die damalige Bastion des Deutschritterordens. 1945 beendete dort die Rote Armee die deutsche Herrschaft – hoffentlich für immer! Denn im Gegensatz zur touristisch-gastronomischen Region Brandenburg, hat zum Beispiel das Tagesspiegel-Leckermäulchen Elisabeth Binder hier, in diesem südlichen Teil der Wojewodschaft Szczecin, noch so gut wie keine Deutungsmacht und kann also auch nicht – wie neulich im SFB – den Bewohnern dummdreiste Zensuren geben für den Grad ihrer Kapitulation vor westdeutschen Dienstleistungsstandards und Kotzen-Nutzen-Rechnungen.
Im Ferienort Moryn gibt es nur ein Restaurant, in der Ortsmitte, das mit einem riesigen Neonkrebs auf dem Dach wirbt – aber schon lange geschlossen ist. Ersatz bietet eine Bierpinte, ein kleines Café und – vor allem – die Minibar, die fast rund um die Uhr knackevoll ist. Schon morgens kommen die nostalgisch gestimmten jungen DDR-Pärchen in Parka und Minirock hierher und stellen sich ihren Frühstücksersatz in Plastebechern zusammen. Schlechte Laune gehört dabei zum Genuß: Das ganze Dorfambiente atmet noch die an Gastverachtung grenzende Schlichtordnung eines realen Sozialismus. Dazu zählen auch die Trabis und Wartburgs auf dem Holperpflaster und die vielen schönen Blumen in den Gärten vor den kleinen alten Tagelöhnerhäusern und auf den öffentlichen Plätzen. Wobei insbesondere die Cosmea, Stockrosen, Dahlien, Tagetes und Cannae auch insofern sozialistisch blühen, als es sich dabei um Züchtungen handelt, die gärtnerisch noch nicht der derzeitigen Westmode unterworfen wurden.
Außer kurz in Hinterpommerns tiefsten und saubersten, aber auch kältesten See zu baden und lange spazierenzugehen gibt es in Moryn zum Glück kaum Freizeitangebote. Dies ist jedoch verwunderlich, denn rings um den See wimmelt es von Datschen- und Feriensiedlungen und stattlichen Villen, inklusive zweier sozialistischer Urlaubssilos im Zustand von Investitionsruinen. Aber die Touristen wollen hier anscheinend nur ihre Ruhe haben. Die meisten Mercedes-, Audi- und BMW-Limousinen mit Berliner oder Ruhrgebiets-Kennzeichen gehören Polen. Deutsche kommen mit dem Zug oder dem Bus. Obwohl alles sehr billig ist – wir zahlten für ein Bett (im Partyraum einer Pension) umgerechnet 22 Mark –, verpflegt sich fast jeder selbst. Das macht gepflegte Gastronomie nicht nur entbehrlich, sondern fast gefährlich. Wir sahen mehrere alleinerziehende DDR-Mütter, die seufzend ihrem Kind in der Minibar ein Eis spendierten. Der Imbiß ist in gewisser Weise das Zentrum des Ortes. Wer dort nicht früher oder später aufkreuzt, will entweder zur Polizeiwache rechts davon oder in das kleine Wohnhaus links davon: eines der vielen Rätsel von Moryn. Zwei ganz normale Familien wohnen dort, aber ununterbrochen kommen Grüppchen junger Leute raus oder gehen hinein: Wir zählten an einem Abend 42 Personen.
Nicht nur die Architektur der wenigen Nachkriegsgebäude sieht mediterran aus, die Polen sind auch mindestens so gesellig und benutzen ihre öffentlichen Räume dementsprechend gerne und oft. Welch ein Kontrast zu den mittlerweile alle à la Tauberbischofsheim renovierten Marktplätzen märkischer Kleinstädte, die außer von einigen besoffenen Jungprolos und verängstigten Vorruheständlern so gut wie niemand außerhalb der Marktzeiten freiwillig frequentiert! Die unglückliche Kolonialisierung der DDR und ihre fatal-sozialen Folgen springen einem geradezu ins Gesicht, wenn man die etwa 110 Kilometer von Berlin durch Brandenburg ins Pommernland fährt, das wirklich noch „frei“ ist von Multi- und Gewerbecentern und sonstiger Westinvestorenbeglückung.
Moryn wurde im Krieg kaum zerstört, und die polnische Regierung fing erst in den siebziger Jahren an, ihre Westgebiete zu entwickeln. Jetzt wäre die schöpferische Zerstörung Aufgabe von Privatleuten, die während der Woche zwischen Oder und Rhein ihr Geld verdienen, aber sie halten sich klugerweise zurück. So besteht fast die gesamte touristische Infrastruktur der Halbinsel aus einem einzigen Mikrowellenherd – in der Minibar. Das ist schon einen Ausflug wert!
wird fortgesetzt
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