: „Die Bevölkerungspyramide steht kopf“
■ Fast 70 Prozent der jüdischen Zuwanderer in Berlin sind Akademiker, 27 Prozent über 60 Jahre alt. Gespräch mit Judith Kessler von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
taz: Wo liegen die Probleme bei der Integration jüdischer Emigranten aus der Ex-UdSSR?
Judith Kessler: Wie generell für Ausländer, so ist es auch für sie schwer, einen Job zu bekommen, zumal die Bestimmungen zur Anerkennung von Abschlüssen recht restriktiv sind. Bei den Zuwanderern selbst gibt es wiederum eine gewisse Unflexibilität. Das liegt auch an den spezifischen Berufsgruppen: Ärzte und Lehrer etwa haben ein besonderes Berufsethos. Berufs- und Altersstruktur sind untypisch für eine Migration: Fast 70 Prozent der Zuwanderer in Berlin sind Akademiker, 27 Prozent sind über 60. Die Bevölkerungspyramide steht genau auf dem Kopf. Das hohe Alter bedingt auch, daß Möglichkeiten beschränkt sind, zum Beispiel beim Arbeitsamt einen Deutschkurs, eine Umschulung oder eine Fortbildung zu besuchen. Psychologisch müssen die Zuwanderer mit gleich mehreren Identitätsbrüchen umgehen. Sie haben eigentlich nie richtig zu der Gesellschaft gehört, aus der sie kommen, deutsch sein wollen sie nicht, russisch erst recht nicht, und in der jüdischen Gemeinschaft hier müssen sie erst ihren Platz finden.
Entwicklungsminister Spranger fürchtet „unbegrenzte Zuwanderung“ und die Folgen für die deutsche Krankenversicherung.
Ich denke, man hat mit der Einführung der Kontingentregelung ein Problem vom Tisch haben wollen. Die Leute standen ja schlicht und einfach vor der Tür, und da hat man einen formalen Handlungsrahmen geschaffen. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis: Es ist schon schwierig, einen Antrag überhaupt loszuwerden. Nehmen Sie jemanden, der alt und krank ist und 1.500 Kilometer von der deutschen Botschaft entfernt wohnt, und die Mafia steht vor der Tür. Und danach dauert es ewig, bis eine Aufnahmezusage vorliegt. Wenn ich mir die deutsche Migrationspolitik insgesamt ansehe, stelle ich fest, daß das Tor enger gemacht wird. Und in diesem Kontext sehe ich auch die Äußerungen Sprangers.
Jüdische Zuwanderung nach Deutschland hat auch eine historisch-politische Dimension...
Ja, sicher. Zunächst einmal ist es legitim, daß Juden nach Deutschland einwandern und hier leben. Aber natürlich steht jüdisches Leben in Deutschland heute in einem ganz anderen Zusammenhang als das Vorkriegsjudentum. Es sind verschiedene Geschichten, verschiedene Assimilierungsgrade, verschiedene Mentalitäten. Man kann deshalb nicht von Erneuerung reden. Wir haben es mit einer neuen Qualität zu tun.
Drückt sich darin Vertrauen und ein neues Verhältnis zu Deutschland aus?
Ja, wobei sich die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion in ihrem Verhältnis zu Deutschland von anderen Juden unterscheiden. Da ist zum einen das klassische, deutschfreundliche Bild vom Volk der „Dichter und Denker“, aber auch die Erwartung, daß Deutschland aus der Vergangenheit gelernt hat und besonders freundlich mit jüdischen Emigranten umgehen wird. Hinzu kommt, daß die Menschen, die heute einwandern, zum großen Teil damals entweder nicht persönlich mit den Deutschen in Berührung gekommen sind oder ihre Familien nicht betroffen waren. Sie haben Eltern oder Großeltern nicht verloren. Die Erfahrung zeigt, daß diejenigen mit einer schlimmen familiären Geschichte auch nicht unbedingt nach Deutschland kommen. Interview: Ralf Melzer
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