: Motivsuche im Splitterschatten
Seit einer Woche wird die Tötung einer kurdischen Familie erneut vor Gericht verhandelt. Der Angeklagte hofft mit einem neuen Geständnis die lebenslange Strafe auf 15 Jahre verringern zu können ■ Von Michael Schmuck
Im März 1995 ist der Kurde Orhan I. wegen dreifachen Mordes und zweifachen versuchten Totschlags zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Er habe im Mai 1994 aus verletzter Ehre heraus im Wohnzimmer der kurdischen Familie Y. in Kreuzberg eine Handgranate gezündet, weil er sich für den Vorwurf rächen wollte, er habe seine Nichte Eylem, die Schwiegertochter der Familie Y., als Kind sexuell mißbraucht. Das hatte das Schwurgericht damals festgestellt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat das Urteil nun aufgehoben. Seit einer Woche wird der Fall vor einem anderen Berliner Schwurgericht wiederaufgerollt. Vierzehn Verhandlungstage sind für den Fall veranschlagt. Heute findet der dritte statt.
Es fällt nicht leicht, dem dreißigjährigen Orhan I. jetzt sein Geständnis zu glauben. Noch vor einem Jahr, bei der ersten Verhandlung, hatte er gesagt, er habe die Handgranate nicht mitgebracht und erst recht nicht gezündet. Nun aber will er sie in Selbstmordabsicht auf dem Wohnzimmertisch der Familie Y. zur Explosion gebracht haben.
Sein plötzliches Geständnis ist darum so schwer zu glauben, weil er darin haargenau das sagt, was ihm in der erneuten Verhandlung die einzige Chance eröffnet, die Verurteilung zu „lebenslänglich“ vielleicht wegen verminderter Schuldfähigkeit auf fünfzehn Jahre zu verringern. Das Geständnis, das seine Verteidigerin letzte Woche vorgelesen hat, paßt auch haargenau zu der Kritik, die der BGH geäußert hat: Die Möglichkeit der Selbstmordabsicht sei im Urteil nicht genügend beleuchtet und nicht ausreichend verworfen worden.
Es fällt aber auch deshalb schwer, dem Geständnis zu glauben, weil Orhan I. gegenüber dem psychiatrischen Gutachter Werner Platz erneut das gesagt hat, was er schon im vergangenen Jahr sagte: Er habe keine Handgranate mitgebracht. Aber das wird wahrscheinlich erst recht nicht stimmen: Schon damals hat keiner glauben können, daß die Familie Y. in ihrem eigenen Wohnzimmer eine Granate auf den Tisch gelegt und womöglich auch noch gezündet habe.
Viele Beobachter haben bei der ersten Verhandlung, anders als das Gericht, geglaubt, Orhan I. habe die Granate zwar mitgebracht, aber sie sei womöglich im Handgemenge explodiert, nachdem er sie der Familie Y. zunächst nur zur Drohung gezeigt hatte. Dem Sohn wurde eine Hand abgerissen, woraus man schließen könnte, daß er Orhan I. die Granate hatte entreißen wollen.
Viele hielten Orhan I. nicht für einen brutalen Mörder. Kaum jemand glaubte, daß er mit eiskalter Berechnung eine ganze Familie in die Luft gejagt und sich dabei zentimetergenau in den Splitterschatten des Wohnzimmertischs und einer darauf stehenden Rakiflasche geworfen haben soll – zum Schutz vor den dreitausend Granatsplittern. Daß es ihm egal war, selbst mit den anderen zu sterben, das konnten viele noch glauben. Aber daß er in erster Linie sich selbst umbringen und die anderen bloß eher zwangsläufig mitnehmen wollte in den Tod, das hat kaum jemand für möglich gehalten. Denn das setzte dieselbe Brutalität sich selbst gegenüber voraus, die man ihm den anderen gegenüber eben nicht zutraute.
Aber nur ein solcher „Mitnahmeselbstmord“ könnte Orhan I. die Strafmilderung bringen. Mag sein, wie es will: Man muß Verständnis haben für den Strohhalm, nach dem er mit diesem Geständnis greift.
Was kurz vor der Explosion wirklich ablief, warum die Granate gezündet wurde und von wem, mit welchen Motiven Orhan I. im Wohnzimmer der Familie Y. saß – all das konnte damals im ersten Prozeß trotz der dreiundzwanzig Zeugen, drei Gerichtsmediziner, eines Psychiaters, einer Psychologin, eines Ethnologen und eines Bomben- und eines Schußwaffenexperten nicht einwandfrei, nicht ohne jeglichen Zweifel ermittelt werden. Auch wenn das Schwurgericht damals aufgrund der vielen, aber auch vieldeutigen Indizien zu einer Überzeugung kam: Den Beweis „erste Klasse“, den mit Augenzeugen, gab es nicht. Alle, die damals bei der Explosion im Wohnzimmer dabei waren, starben – mit Ausnahme von Orhan I.
Was bis zur Explosion und was danach passierte, dafür gibt es genügend Zeugen. Im Mai 1994 macht Orhan I.s Nichte Eylem ihrem Onkel den Vorwurf, er habe sie sexuell mißbraucht. Es kommt dazu, weil in Eylems Hochzeitsnacht das Laken, das nach kurdischer Tradition die Jungfräulichkeit der Braut nachweisen soll, nicht blutig ist. Zunächst findet Eylem die Erklärung dafür in einem Sturz in frühester Kindheit. Doch dann plötzlich gibt sie Orhan I. die Schuld: Als sie sieben und er siebzehn war, habe er sie in der Türkei mißbraucht.
Ein schwerer Vorwurf für einen Kurden – nicht allein des sexuellen Mißbrauchs wegen, sondern vor allem wegen des Inzests zwischen Onkel und Nichte. Der Onkel ist für Kurden sozusagen ein Teil des Vaters. Ob der Vorwurf der Wahrheit entsprach oder ob Eylem ihn aus dem Zwang nach einer Erklärung für die Schande der fehlenden Jungfräulichkeit erfunden hat, konnte nicht geklärt werden. Auch deshalb, weil Eylem im ersten Prozeß nicht aussagte. Als nahe Verwandte des Angeklagten darf sie die Aussage verweigern. Ihr Verhalten vor Gericht war schon damals widersprüchlich. Dieses Mal hat sie die Absicht erklärt, für ihren Onkel auszusagen. Ob sie das tut, bleibt abzuwarten.
Wegen Eylems schwerem Vorwurf kam Orhan I. im Mai 1994 aus Duisburg nach Berlin, um die Angelegenheit zu klären. Er sagte damals, er habe als einziger in Deutschland lebender Verwandter nachschauen wollen, warum Eylem diesen nach seiner Aussage frei erfundenen Vorwurf gemacht habe. Er habe geglaubt, ihre neue Familie, in die sie erst ein halbes Jahr zuvor eingeheiratet hatte, setze sie unter Druck.
Zu seiner Sicherheit habe er eine Pistole mitgenommen, aber keine Handgranate. In der Wohnung der Familie Y. sei er mit blankem Haß empfangen worden. Im Wohnzimmer habe er mit Eylems Schwiegereltern und ihrem Mann über die Angelegenheit gesprochen. Plötzlich habe es geknallt und ihm sei schwarz vor Augen geworden. Dann sei er im Krankenhaus aufgewacht.
Ganz anders erzählen es die Töchter der Familie. Sie waren zur Zeit der Explosion nicht im Wohnzimmer – ebenso wie Eylem. Sie hätten in der Küche den schrecklichen Knall gehört und seien sofort ins Zimmer gerannt. Ihr Bruder und ihr Vater hätten leblos am Boden gelegen. Ihre Mutter – sie befand sich bei der Explosion ebenfalls teilweise im Splitterschatten – habe vor dem Sofa gestanden und Orhan I. an den Haaren festgehalten. Als die Mädchen sich gerade über Vater und Bruder hätten beugen wollen, habe er der Mutter mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Die Kugel durchtrennte das Rückenmark und verursachte schlagartig vom Hals abwärts eine Querschnittslähmung, an deren Folgen die Mutter starb. Dann habe Orhan I. auch auf die Töchter geschossen. Eine wurde am Arm, eine an der Schulter getroffen. Trotz ihrer Verletzungen überwältigten sie Orhan I. und traktierten ihn mit Küchenmessern. Auch die kurz nach den Töchtern ins Zimmer geeilte Eylem sticht mit dem Messer unaufhörlich auf ihren Onkel ein, bis ein Helfer sie endlich zurückhält.
Der Arzt stellte später eine ganze Reihe von Einstichen am rechten Oberarm, an der linken Schulter, an der linken Seite und am rechten Unterarm fest. Die Schüsse, die Orhan I. nach der Explosion abgab, sprechen nicht völlig gegen eine Selbstmordabsicht zum Zeitpunkt der Explosion. Sie lassen aber zumindest daran zweifeln, daß er in erster Linie sich selbst umbringen wollte. Es konnte allerdings auch nicht hundertprozentig geklärt werden, ob die Schüsse sich möglicherweise auch bei einem Gerangel um die Waffe gelöst hatten. Die Richter von damals hatten das jedenfalls nicht angenommen, sondern waren von gezielten Todesschüssen überzeugt.
Der jetzige Vorsitzende Richter, Hartmut Füllgraf, neigt offenbar dazu, das meint man aus der Art seiner Fragen erkennen zu können, Orhan I.s Geständnis zu glauben. Oder ist es seine vorsichtige Betrachtungsweise, der Wille, keinen vorschnellen Eindruck aufgrund von Indizien zu gewinnen, die viele Schlüsse zulassen? Füllgraf ist ein Mann, dessen Fragen manchmal umständlich wirken, aber wohl sein Bemühen um Sorgfalt zum Ausdruck bringen.
Können die Richter heute aus denselben Indizien, aus denen die Richter damals auf kaltblütigen Mord schlossen, eine in erster Linie auf Selbstmord gerichtete Tat ableiten? Kann man nun aus der Lage des Angeklagten im Splitterschatten, aus der gesamten Situation und der Vorgeschichte auf seine wahren Motive schließen? Die ganze Wahrheit wird man wohl nie herausfinden. Die kennt nur Orhan I. Vielleicht.
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